An der Grenze des Wissens beginnt der Glaube, wusste bereits Albert Einstein. Rund um das neue Coronavirus SARS-CoV-2 kursieren seit vielen Wochen eine Vielzahl an Meldungen, die auf Halbwissen, Nichtwissen oder schlicht auf Fake News basieren. Untergangspropheten haben aktuell Hochsaison. So war erst vor wenigen Wochen zu lesen, dass das Coronavirus in einem Labor gezüchtet worden sei. Es solle eine Mischung aus biologischer Waffe und Kriegsführung der 4. Generation sein, waren sich die Untergangspropheten sicher. Derartige Meldungen verteilten sich innerhalb kürzester Zeit im Internet. Und im Ergebnis führen solche Meldungen vor allem zu Verunsicherung und Angst. Und Angst produziert noch mehr Verunsicherung, was wiederum zu noch mehr Angst führt. In Zeiten größter Unsicherheit sind diejenigen schlecht beraten, die den Kopf in den Sand stecken und vor Angst gelähmt sind. Den wer von Angst regiert wird, dann ist nur noch wenig Freiheit und Weitblick da. Es bringt das Leben zum Stillstand.
Bei der aktuellen Coronavirus-Epidemie – wie auch bei vielen anderen Epidemien – sollte man sich bewusst machen, dass sich die potenziellen Szenarien nur antizipieren lassen, wenn man versteht, dass es sich bei einer Epidemie und einer potenziellen Pandemie um eine komplexes System handelt. Wenn Virologen es für möglich halten, dass sich der Ausbruch des neuen Coronavirus nicht eindämmen lasse und sich zu einer globalen Pandemie weiterentwickeln werde, so konzentrieren sie sich auf ein einziges (!) potenzielles Szenario, das man fairerweise auch als „worst case“-Szenario bezeichnen sollte. Alle anderen Tausend oder gar Zehntausende potenzielle Szenarien, insbesondere auch die realistischen Szenarien oder Best-Case-Szenarien, werden häufig komplett in der Risikokommunikation ausgeblendet. Auf der einen Seite malen "Experten" Horrorszenarien an die Wand, was nicht selten zu „hysterischen Überreaktionen“ führt. Und auf der anderen Seite gibt es weiterhin "Experten", die die Epidemie vertuschen, verharmlosen und verleugnen.
Derartige singuläre Beschreibungen potenzieller Szenarien belegen zwei Dinge: Erstens eine ausgeprägte Inkompetenz beim Verstehen komplexer Systeme. Zweitens eine ausgeprägte Inkompetenz bei der Beschreibung stochastischer Eigenschaften komplexer Systeme.
Politiker und Experten sollten den hohen Grad an Unsicherheit bei SARS-CoV-2 akzeptieren
Komplexe Systeme lassen sich nicht in Form einfacher Kausalbeziehungen (wenn das eintritt, dann passiert anschließend das) beschreiben. Vielmehr sind derartige Systeme durch einen hohen Grad an Unsicherheit gekennzeichnet. Als Unsicherheit bezeichnet man einen bewusst wahrgenommenen Mangel an Sicherheit oder an Reliabilität und Validität.
So werden in der Infektionsepidemiologie seit vielen Jahren verschiedene mathematische Prognose- und Simulationsmodelle eingesetzt, um beispielsweise den zeitlichen und geografischen Verlauf einer Epidemie sowie wichtige epidemiologische Parameter zu simulieren und Bandbreiten zu projizieren.
System Dynamics zur Simulation komplexer Systeme
Um komplexe Systeme zu modellieren, benötigen wir Werkzeuge, die derartige Systeme adäquat abbilden können. Ein solches wirksames Instrument ist die am MIT (Massachusetts Institute of Technology) entwickelte Methode „System Dynamics“ (SD). Im Mittelpunkt dieser Methode stehen die Modellierung, Simulation, Analyse und Gestaltung von dynamisch-komplexen Sachverhalten in sozioökonomischen Systemen. Dynamische und komplexe Systeme – wie eben auch Epidemien und Pandemien – zeichnen sich unter anderem sowohl durch verzögerte Ursache-Wirkungs-Effekte als auch durch Rückkopplungsbeziehungen zwischen einzelnen Variablen aus.
System Dynamics beschäftigt sich mit dem Verhalten von gelenkten komplexen Systemen im Zeitablauf. Es verfolgt das Ziel, Systeme mit Hilfe qualitativer und quantitativer Modelle nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu verstehen, wie Rückkopplungsstrukturen das Systemverhalten determinieren. Damit ermöglicht System Dynamics Entscheidern, die Beziehungen zwischen einzelnen Systemkomponenten besser zu identifizieren.
System Dynamics zur Modellierung von SARS-CoV-2
Die Verbreitung einer Epidemie bzw. Pandemie ist ein hochkomplexer und dynamischer Prozess. Eine Vielzahl von Einflussfaktoren und deren Wechselwirkungen untereinander, zeitliche Verzögerungen, sowie exponentielle Wachstumsverläufe machen es sehr schwer, die zukünftige Entwicklung einer Epidemie robust und seriös abzuschätzen.
In der Praxis gibt es eine Reihe von mathematischen Epidemie-Modellen, die den möglichen Verlauf einer Infektionskrankheit beschreiben. Hierzu zählt das von Kermack und McKendric entwickelte S-I-R-Modell. In diesem Modell existieren drei Populationsklassen: Gesunde Menschen, die die Krankheit bekommen können (S = Susceptible), infizierte Personen, die die Krankheit weitergeben können (I = Infected) und Menschen, die von der Krankheit genesen sind (R = Recovered). Unter Berücksichtig weiterer Einflussfaktoren, wie beispielsweise Kontaktraten, Ansteckungswahrscheinlichkeit und Dauer der Erkrankung beschreibt das Modell die Geschwindigkeit der Übergänge von einer Gruppe in die nächste und ermittelt somit den möglichen Verlauf der Epidemie. Basierend auf dem S-I-R-Modell existieren verschiedene Modelvarianten, um unterschiedliche Erkrankungen adäquat abbilden zu können. Die Methode System Dynamics ist ideal geeignet, diese und ähnliche Epidemie-Modelle nachzubilden, zu erweitern und so den aktuellen SARS-CoV-2 / Covid-19-Ausbruch zu modellieren und zu simulieren.
Die relevanten Stellschrauben der Epidemieausbreitung erkennen und effiziente Gegenmaßnahmen ergreifen
In SD-Modellen lassen ich einzelne Parameterwerte verändern und deren Auswirkungen simulieren. Gelingt es beispielsweise die Kontaktrate zu senken (etwa über den Verzicht von Großveranstaltungen) so wird im Modell deutlich, dass sich die Infektion wesentlich langsamer ausbreitet, es eine geringere Anzahl an infizierten Personen gibt und letztendlich weniger Todesfälle zu beklagen sind.
Ein weiterer Einflussfaktor im Modell stellt die Diagnoserate bzgl. des Virus dar. Gerade bei neuen Erkrankungen ist dieser Wert relativ gering. Dies liegt zum einen daran, dass aufgrund fehlender Erfahrung unzureichende Diagnosen gestellt werden oder betroffene Patienten nicht zum Arzt gehen. Die Folge ist eine hohe Dunkelziffer von infizierten Personen und demzufolge eine schnellere, unkontrollierte Ausbreitung der Infektionskrankheit. Gelingt es, die Diagnoserate zu erhöhen, so wird die Infektion frühzeitig erkannt, geeignete Maßnahmen (beispielsweise Quarantäne) können zielgerichtet ergriffen werden und die Ausbreitung wird verzögert.
Abb. 01: Beispiel Kausaldiagramm S-I-R-Modell
Vorteile systemdynamischer Epidemie-Modelle
System Dynamics bietet gegenüber klassischen Epidemie-Modellen u.a. folgende Vorteile:
- Mit Hilfe eines Kausaldiagramms werden die Einflussgrößen der Viruserkrankung und deren gegenseitigen Wechselwirkungen graphisch dargestellt (siehe Abbildung oben). Das schafft Transparenz, Nachvollziehbarkeit und fördert so das Verständnis über den Epidemieverlauf.
- auf Basis alternativer Szenarien (Was-wäre-Wenn-Szenarien) lassen sich mögliche zukünftige Virusverläufe simulieren und Handlungsoptionen zur Verlangsamung bzw. Eindämmung des Virusausbruchs fundiert bewerten.
- Die Umsetzung des Epidemie-Modells erfolgt mit Hilfe einer systemdynamischen Standard-Simulationssoftware. Dadurch lassen sich Modellanpassungen oder -erweiterungen (beispielsweise Auswirkungen von SARS-CoV-2 / Covid-19 auf die eigene Supply Chain) einfach und ohne Programmierkenntnisse durchführen.
- Die Szenariosimulationen erfolgen in Echtzeit und werden anhand kundenindividueller Dashboards analysiert (siehe Abb. 02).
Abb. 02: Dashboard SARS-CoV-2 / Covid-19-Simulation
Fazit
Eine systemdynamische Modellierung des aktuellen SARS-CoV-2 / Covid-19-Virus liefert wichtige Voraussetzungen, um den Epidemieverlauf zu verstehen, mögliche zukünftige Entwicklungen vorauszudenken und Effekte von Interventionsstrategien fundiert einzuschätzen zu können.
Autoren:
Frank Romeike | RiskNET GmbH - The Risk Management Network
Klaus Schramm | Schramm Unternehmensberatung GmbH