Ethisch verwerfliche Aktivitäten oder die Vernachlässigung von Aufsichtspflichten der Organmitglieder führten in der Vergangenheit nur selten zu Haftungssanktionen, obwohl nach § 93 AktG für die Mitglieder des Vorstands sowie gemäß § 116 AktG auch für die Aufsichtsratsmitglieder klare Sorgfaltsmaßstäbe definiert sind. In der Praxis würde dies jedoch bedeuten, dass entsprechend dem bisher geltenden Recht der Aufsichtsrat gegen Vorstandsmitglieder und der Vorstand gegen Aufsichtsratsmitglieder klagt. Zwar hat der BGH in seinem ARAG/Garmenbeck-Urteil vom 21. April 1997 (BGHZ 135, 244; NJW 1997, 1926.) die Pflicht des Aufsichtsrats zur Durchsetzung von Haftungssanktionen gegen den Vorstand und die ansonsten drohende Eigenhaftung bei diesbezüglicher Untätigkeit gesondert hervorgehoben, doch hat sich auch dadurch nichts Wesentliches an der Zahl der erhobenen Klagen gegen Vorstandmitglieder geändert.
In einem aktuellen Urteil vom 08.07.2004 entschied nun die für Versicherungsaufsichtsrecht zuständige Kammer des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main über die Klage eines Vorstandsmitglieds, eines Diplom-Betriebswirts (Kläger), der sich gegen die Rechtmäßigkeit zweier Verfügungen der Bafin (Beklagte) wandte. Mit diesen Verfügungen hatte die Bafin vom Aufsichtsrat der Bruderhilfe Sachversicherung auf Gegenseitigkeit im Raum der Kirchen (Bruderhilfe) und vom Aufsichtsrat der PAX Familienfürsorge Krankenversicherung auf Gegenseitigkeit im Raum der Kirchen (PAX) verlangt, den Kläger als Mitglied des Vorstandes abzuberufen.
Die Bruderhilfe und die PAX bildeten mit der Familienfürsorge Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit im Raum der Kirchen ursprünglich den Gleichordnungskonzern der Versicherer im Raum der Kirchen (VRK). Zwischenzeitlich ist die Bruderhilfe und die PAX aufgrund eines Verschmelzungsvertrages zum VRK Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit im Raum der Kirchen verschmolzen worden. Am 07.05.2003 kam es zur Eintragung im Handelsregister. Der Kläger war in jedem der drei oben genannten Versicherungsunternehmen in einer Vorstandsfunktion tätig, davon bei der Bruderhilfe als Vorstandsvorsitzender. Er nahm in allen drei Versicherungsunternehmen als Mitglied des Vorstandes das Ressort Controlling, IT, Rechnungswesen, Steuern und Öffentlichkeitsarbeit war.
Zwischen dem 10. und dem 14.06.2002 fand bei der Familienfürsorge eine örtliche Prüfung seitens der Beklagten statt. Diese Prüfung ergab unter anderem, dass bei der Familienfürsorge die stillen Lasten aus Aktienengagement in mehreren Investmentfonds auf etwa 93 Mio. Euro angewachsen waren, die sich zum Jahresende 2001 auf etwa 55 Mio. Euro und Mitte 2001 auf etwa 26 Mio. Euro belaufen hatten. Im Juni 2002 kam es auf Anordnung der Bafin daraufhin zur Einsetzung eines Sonderbeauftragten für den Vorstand der Familienfürsorge. Weitere Veränderungen in den Vorständen erfolgten auf freiwilliger Basis.
Mit Bescheid vom 12.12.2002 verlangte die Bafin schließlich vom Aufsichtsrat der Bruderhilfe bzw. vom Aufsichtsrat der PAX, den Kläger als Mitglied des Vorstandes abzuberufen. Diesem Verlangen folgten die jeweiligen Aufsichtsräte. Die Bafin begründete ihr Vorgehen damit, dass der Kläger nicht mehr den Anforderungen des Versicherungsaufsichtsgesetzes bzgl. der fachlichen Eignung von Geschäftsleitern von Versicherungsunternehmen genüge. Bei der Familienfürsorge sei im Hinblick auf die stillen Lasten aus Aktienengagements in mehreren Fonds eine existenzgefährdende Lage eingetreten. Diese finanzielle Schieflage sei maßgeblich auch auf fachliche Mängel im Bereich Controlling zurückzuführen. Bestimmte Missstände seien maßgeblich dem Kläger als für das Controlling zuständigen Vorstandsmitglied anzulasten. Vor dem Hintergrund dieser Mängel sei das Abberufungsverlangen notwendig, um Belange der Versicherten zu wahren.
Der Kläger hielt dem entgegen, er habe in der kritischen Phase der Unternehmen seine Verantwortung als Ressortvorstand Controlling durchgängig aktiv wahrgenommen. Er habe sich zum Beispiel wiederholt mit eindeutigen Warnungen gegenüber Aufsichtsrat und Vorstand der Familienfürsorge zu Wort gemeldet. Das Ressortcontrolling habe dem Vorstand regelmäßig monatlich über die Entwicklung der Zeitwerte und der stillen Lasten berichtet.
Die Installation eines Risikosystems sowie eines Risikolimitsystems sei der Beklagten zugesichert worden. Für den Bereich Kapitalanlage sei ein anderes Vorstandsmitglied zuständig gewesen. Dieses habe dem Kläger nach bestimmten Vorgaben berichten sollen. Eine solche Informationsmitteilung seitens des Bereichs Kapitalanlagen sei jedoch zu keinem Zeitpunkt erfolgt. Es habe für ihn aber auch keinerlei Anzeichen dafür gegeben, dass die Vorstände für den Bereich Kapitalanlage oder den Bereich Revision ihre erhaltenen Aufträge nicht ausführen würden. Die Verantwortung für Kapitalanlagen habe primär bei dem Ressortvorstand Kapitalanlagen gelegen. Teilweise seien auch die Anmahnungen des Klägers bzgl. einzelner Neuerungen bei der Handhabung der Geschäfte von einem anderen Vorstandsmitglied blockiert worden.
Ihm sei auch nicht etwa die Vernachlässigung ressortübergreifender Aufsichtspflichten vorzuwerfen. Er habe darauf vertrauen dürfen, dass er auf seine konkreten Nachfragen zutreffend über die ergriffenen Risikoabsicherungsmaßnahmen informiert werden würde. Die Abberufungsverlangen seien im übrigen ermessensfehlerhaft bzw. unverhältnismäßig. In seinem 32-seitigen Urteil vom 08.07.2004 legt das Gericht zunächst dar, dass die Klage trotz eingetretener Erledigungen der Verfügung durch Vollzug des Abberufungsverlangens aus dem Gesichtspunkt des Rehabilitationsinteresses zulässig sei. Die streitgegenständlichen Abberufungsverlangen führten vor dem Hintergrund der darin attestierten fachlichen Ungeeignetheit ohne Zweifel zu einer fortdauernden Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Klägers. In der Sache hielt jedoch das Verwaltungsgericht das Vorgehen der Bafin für rechtmäßig und wies die Klage ab. Ermächtigungsgrundlage für die Abberufungsverlangen der Bafin ist § 87 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG).
Versicherungsunternehmen dürfen ihren Geschäftsbetrieb nur mit einer Erlaubnis der Bafin als Aufsichtsbehörde aufnehmen (§ 5 Versicherungsaufsichtsgesetz - VAG). Diese Erlaubnis ist unter anderem dann zu versagen, wenn Tatsachen vorliegen, die den Schluss darauf zulassen ("die die Annahme rechtfertigen"), dass der Betriebsinhaber oder - bei juristischen Personen - ein gesetzlicher oder satzungsmäßiger Vertreter nicht zuverlässig ist oder aus anderen Gründen nicht den im Interesse einer soliden und umsichtigen Führung des Erstversicherungsunternehmens zu stellenden Ansprüchen genügt.
Unter den selben Voraussetzungen kann die Bafin auch ein Abberufungsverlangen stellen, wenn ihr nachträglich solche Tatsachen bekannt werden (§ 87 Abs. 6 VAG). Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts hat die Bafin auf dieser Gesetzesgrundlage rechtmäßig gehandelt, so dass der Kläger nicht in seinen Rechten verletzt ist. Dieser habe sowohl Pflichten verletzt, die sich aus dem Prinzip der Gesamtverantwortung des Vorstandes ergeben, als auch Pflichten bei der Wahrnehmung des ihm übertragenen Ressorts Controlling selbst verletzt. Für den Vorstand eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit, wie er hier vorliegt (VRK Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit im Raum der Kirchen) seien die für Vorstände geltenden Vorschriften des Aktiengesetzes voll anzuwenden. Der in der Literatur diskutierten Auffassung, für den Bereich der hier zu beurteilenden Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit gewissermaßen "weichere Kriterien" anzulegen folgt das Gericht nicht. Die strikte Anwendung der gesetzlichen Vorgaben des Aktiengesetzes und deren Überwachung durch die Finanzdienstleistungsaufsicht sei - unabhängig von der Rechtsform des Versicherungsunternehmens - erforderlich, weil nur so dem vom Versicherungsaufsichtsgesetz verfolgten Ziel einer ausreichenden Wahrung der Belange der Versicherten vor Verlusten effektiv Rechnung getragen werde. Nur hierdurch könne überdies, wie vom Gesetzgeber beabsichtigt, gerade in Zeiten der Krisen das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Funktionsfähigkeit der Versicherungswirtschaft erhalten bzw. gestärkt werden. Diese besondere Zielsetzung des Versicherungsaufsichtsrechts sei mit in Kraft treten des Gesetzes über die integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht im Jahre 2002 nochmals betont worden.
Das im Versicherungsaufsichtsgesetz (§ 34) festgelegte Vieraugenprinzip (der Vorstand muss aus mindestens zwei Personen bestehen) fordere, dass die Geschäftsleiter nicht nur bereit, sondern auch fachlich in der Lage seien, sich bei der Ausübung ihrer Tätigkeit "eher mehr als weniger" laufend gegenseitig zu kontrollieren. Dies schließe grundsätzlich den Rückzug auf eine unternehmensinterne Geschäftsverteilung aus. Nach dem deutschen Kollegialmodell (vgl. § 77 Aktiengesetz) seien für die Leitung der Gesellschaft grundsätzlich alle Vorstandsmitglieder verantwortlich. Dies gelte auch, wenn eine Satzung oder eine Geschäftsordnung eine Ressortaufteilung vornehme, auch dann bleibe die Gesamtverantwortlichkeit des Vorstandes bestehen. Die Vorstandsmitglieder dürften auch dann nicht nur ihre eigenen Geschäftsbereiche verfolgen, sondern sie führten diese Geschäfte auch mit Wirkung für den Gesamtvorstand und unter der Aufsicht der anderen Vorstandsmitglieder. Daraus folge zum einen eine regelmäßige Berichtspflicht des ressortverantwortlichen Vorstandsmitglieds im Gesamtvorstand und zum anderen eine Aufsichts- und Überwachungspflicht der übrigen Vorstandsmitglieder. In dieser Gesamtverantwortung müsse der Vorstand geeignete Maßnahmen treffen, insbesondere ein Überwachungssystem einrichten, da mit eine den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklung früh erkannt werden könne (vgl. § 91 Abs. 2 Aktiengesetz). Der hier heranzuziehende § 91 Abs. 2 Aktiengesetz sei vom Gesetzgeber deshalb eingeführt worden, um angesichts offensichtlich fehlender Risikomanagementsysteme in den Unternehmen durch eine ausdrückliche Regelung diese Verpflichtung besonders hervorzuheben.
Auch vor in Kraft treten des hier entsprechend anwendbaren § 91 Abs. 2 Aktiengesetz haben nach den Darlegungen des Gerichts entsprechende Verpflichtungen zur Schaffung angemessener interner Kontrollverfahren bestanden (§ 81 Abs. 1 Satz 5 Versicherungsaufsichtsgesetz und § 25 a Kreditwesengesetz). Mit Einführung des § 91 Abs. 2 Aktiengesetz im Jahre 1998 habe der Gesetzgeber die Verpflichtung der Geschäftsleitung hervorheben wollen, Risikofrüherkennungs- sowie Risikoüberwachungssysteme in den Unternehmen einzurichten, um Entwicklungen vorzubeugen, die den Fortbestand der Gesellschaft gefährden könnten. Der Gesetzgeber habe nämlich erkannt, dass die Ursache von Fehlentwicklungen vielmals an einer mangelhaften Risikoeinschätzung der Unternehmensleitungen gelegen habe, so dass nicht frühzeitig auf drohende Schieflagen der Unternehmen habe reagiert werden können. Dass dies auch für die Versicherungswirtschaft gelte, zeige der vorliegende Fall exemplarisch. Eine insoweit einheitliche Auslegung der genannten Normen des Versicherungsaufsichtsgesetzes, des Aktien- und Kreditwesengesetzes und ein dem entsprechendes Tätigwerden der Aufsicht (Bafin) entspreche im übrigen auch dem Umstand, dass nach internationalem Verständnis Versicherungsunternehmen und Kreditinstitute Finanzdienstleistungsunternehmen seien.
Nach diesen Maßstäben sei zu verlangen, dass ein Vorstand ein Überwachungssystem einrichte, das über geeignete Instrumentarien zur Steuerung, Überwachung und Kontrolle der Risiken nebst eines internen Kontrollverfahrens verfüge. Anhand dieses Systems müsse sich die finanzielle Lage des Unternehmens jederzeit mit hinreichender Genauigkeit bestimmen lassen. Der Vorstand habe mithin geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um bestandsgefährdende Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und die eingeleiteten Maßnahmen auch zu überwachen. Dabei haben nach Auffassung des Gerichts die Vorstandsmitglieder bei ihrer Geschäftsführung und somit auch bei ihren Überwachungspflichten gegenüber anderen Vorstandsmitgliedern die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. Aber auch seine Pflichten bei der Wahrnehmung des eigenen Vorstandsressorts Controlling habe der Kläger verletzt. Er habe das Controlling beim Ist-Zustand nicht auf die bloß mündliche Information beschränken dürfen, die Risikosituation habe sich nicht verändert. Eine effektive Wahrnehmung der dem Bereich Controlling übertragenen Aufgaben bedeute eine intensive Auseinandersetzung mit den Absicherungsmaßnahmen und die Heranziehung aussagekräftiger Unterlagen. Insgesamt lässt sich nach Auffassung des Gerichts feststellen, dass ein angemessenes Nachfragen und Nachhacken nicht erfolgt sei, was wiederum in Anbetracht der wirtschaftlichen Situation der Familienfürsorge, der außergewöhnlichen Situation auf den Kapitalmärkten und der Sachnähe zwischen dem Ressort Kapitalanlagen und dem Ressort Controlling unabweisbar hätte erfolgen müssen.
(Verwaltungsgericht Frankfurt am Main, Aktenzeichen: 1 E 7363/03)