Geopolitik

Vom morbiden und intransparenten Zustand der EU


Geopolitik: Vom morbiden und intransparenten Zustand der EU Kolumne

"Geopolitik im Umbruch" schrieb bereits zu Beginn des vergangenen Jahres Deutschlandfunk und titelte: "Die Landkarten werden derzeit neu gezeichnet." Und Professor Günther Schmid fasste die geopolitische Lage im Rahmen des letzten RiskNET Summit 2018 als "apolare Welt" ohne Regeln zusammen. Dieses Gemisch aus Handlungssprüngen, politischem Kalkül, einem permanenten Austesten des politischen Spielraums und Kriegsrhetorik zeigt, welch angespannte geopolitische Lage in unseren Tagen herrscht. Die Zündschnüre scheinen kurz gelegt in den Konflikten. Sei es zwischen den USA und Iran, zwischen Iran und Saudi-Arabien, Russland und der Ukraine, China und Taiwan sowie Japan. Die Liste ließe sich merklich erweitern und zeigt, dass es in diesen Zeiten ein Regulativ bräuchte, ein Land, ein Staatenbund oder eine Weltorganisation die vermitteln und federführend für mehr Austausch und Stabilität in den Krisenregionen dieser Welt sorgen. Doch weit gefehlt.

Europas Dilemma: politische Radikalisierung und Handlungsunfähigkeit

Die aktuelle Situation verrät vor allem eines: Nationalstaatliche und protektionistische Interessen sind auf dem Vormarsch. Sei es in China, den USA oder Russland, aber auch in der europäischen Staatengemeinschaft. Mit Blick auf Letztere erleben wir seit Jahren einen Erosionsprozess – institutionell, in Bezug auf demokratische Werte und dem Verständnis einer (Werte-)Gemeinschaft. Mit Jacques Chirac ist im September der letzte Old-School-Europäer gestorben, der sich als Verfechter der europäischen Idee – abseits aller wirtschaftlichen Agenden – verstand. Die neuen Staatenlenker sind teils von einem anderen Schlag, setzen die Nation vor die europäische Idee, bauen wirtschaftlichen Druck auf und betreiben Rosinenpickerei.

Diese Gemengelage aus einer "Wir-zuerst-Politik" einzelner Staaten sowie der Handlungsunfähigkeit der EU in wichtigen geopolitischen Fragestellungen offenbart das ganze Dilemma Europas. Denn de facto ist die EU mit ihren Institutionen zu schwach, um international als Mittler und starker Partner stärker in Erscheinung zu treten. Haupthindernis ist eine in sich zerstrittene EU, die einem Flickenteppich nationalstaatlicher Eigeninteressen gleicht. Eine geschlossene  Haltung ist damit unmöglich. Das einzig gemeinsame Ziel scheint die Uneinigkeit in Antworten auf politische, wirtschaftliche und soziale Fragestellungen zu sein. Beste Beispiele liefern die Flüchtlingspolitik, der Streit um den Brexit, der Umgang mit Russland, der Türkei oder den USA, sowie ein verfehlte Klima- und Wirtschaftspolitik.

Risiko: Abschottung statt Offenheit

Nehmen wir das Thema der Flüchtlingspolitik. Eine klare und vor allem einheitliche EU-Flüchtlingspolitik ist nicht erkennbar. "Migration ist derzeit der verlässlichste Konflikt, um die EU zu entzweien. Die Furcht davor ist bei regierenden Politikern aller europäischen Länder spürbar (…)", so das Magazin "Zeit Online" zu diesem Konfliktfeld. Das Ganze wird seit Jahren auf den Rücken der Flüchtlinge ausgetragen. Überfüllte Lager in der Türkei oder Griechenland oder das Anlegeverbot einzelner Staaten für private Rettungsschiffe sprechen eine deutliche Sprache. Es geht um Verteilung von Menschen, um Geld und um Stimmungsmache. Dagegen herrscht bei der Abschottung eine beklemmende Übereinstimmung innerhalb der EU.

Die im polnischen Warschau beheimatete Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) soll in den kommenden Jahren weiter ausgebaut werden. In Zahlen heißt das nach Aussagen von Zeit Online: "Die EU-Kommission will für Grenzschutz und Migration im nächsten Jahrzehnt deutlich mehr ausgeben als bisher. Für den Bereich sollten von 2021 bis 2027 insgesamt 34,9 Milliarden Euro bereitgestellt werden, schlug die Behörde vor." Und weiter heißt es: "Das ist dreimal soviel wie im derzeit laufenden Finanzzeitraum, da waren es 13 Milliarden Euro. Mehr als 60 Prozent des Geldes soll in den Grenzschutz fließen, konkret 21,3 Milliarden Euro." Viel Geld, das mit Blick auf eine idealistische Vorstellung der Abschottung, sinnstiftender eingesetzt werden könnte, nämlich in Maßnahmen innerhalb der Länder, aus denen die Menschen flüchten müssen. Dieses Verhalten ähnelt Trumps "great wall", also der Mauer zu Mexiko.

Hinzu kommt der europäische Fingerzeig auf die protektionistische Politik der USA. Im Grunde ein Thema, bei dem sich Europa an die eigene Nase fassen müsste. Denn die Mär von der eigenen Freihandelspolitik und einer rein US-amerikanischen oder chinesischen Handelspolitik mit Strafzöllen und Zutrittsschranken ist nur die halbe Wahrheit. Schließlich betreibt auch die EU eine protektionistische Politik der Abschottung gegenüber Ländern, die nicht zum erlesenen Kreis des gemeinsamen Wirtschaftsraums Europas gehören. Die Briten erleben das aktuell hautnah in ihren Brexit-Verhandlungen mit der EU über den zukünftigen Weg. Und nicht nur Britannien. Die Heinrich-Böll-Stiftung schreibt in einem Beitrag vom April 2019: "Der Einfuhrzoll auf kambodschanischen Reis schadet der kambodschanischen Landwirtschaft und widerspricht den EU-Förderregeln für wenig entwickelte Länder." So heißt es weiter: "Mit der Einführung eines solchen Zolls, den man getrost als Schutzzoll bezeichnen kann, sollen Myanmar und Kambodscha in eine schlechtere und Länder wie Italien oder Spanien in eine bessere Position gerückt werden. Dies ist die gleiche Motivation, die Trumps Handelskrieg gegenüber China begründet." Kein Einzelfall mit Blick auf weitere asiatische und afrikanische Länder.

Politisches Establishment versus demokratische Verfahren

Im Juli wurde Ursula von der Leyen auf Vorschlag des Europäischen Rates zur Präsidentin der EU-Kommission gewählt. Ein Paukenschlag für die Medienbeobachter und das Wahlvolk gleichermaßen. Denn zur Europawahl standen mit Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei (EVP), dem Sozialdemokraten (Sozialdemokratische Partei Europas) Frans Timmermans und Margrethe Vestager, EU-Kommissarin für Wettbewerb und Mitglied der liberalen europäischen Partei (ALDE), eigentlich andere Spitzenpolitiker. Nun schreibt der Vertrag von Lissabon unter Artikel 9d (7) vor: "Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament." Damit hat das politische Establishment nach vielen Eitelkeiten und Grabenkämpfen eine neue Kandidatin vermeintlich ins Amt gehoben. Des Volkes Wille wurde dabei nicht berücksichtigt. Nun also Ursula von der Leyen, die nach diversen Skandalen und Ungereimtheiten als Bundesverteidigungsministerin verbrannt war. Das ganze Verfahren ist wiederum Wasser auf die Mühlen derjenigen, die gegen Europa kämpfen und für nationale Alleingänge plädieren. Es ist ein Fanal für nationalistische Töne und gegen den europäischen Gemeinschaftsgedanken, so dieser überhaupt je bestand. Auf alle Fälle ist dieser morbide und intransparente Zustand der EU ein Warnsignal. Ein Zustand der EU, den sicher auch China, aber auch Russland und die USA, genau beobachten.

Wohin die geopolitische Reise geht ist eine der Kernfragen des kommenden RiskNET Summit am 5. und 6. November im Schloss Hohenkammer bei München.
Weitere Informationen unter: https://summit.risknet.de

Quellen:

https://www.deutschlandfunk.de/geopolitik-im-umbruch-die-landkarten-werden-derzeit-neu.2011.de.html?dram:article_id=407912

https://www.risknet.de/themen/risknews/stresstests-handel-und-attacken/

https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/eu-fluechtlingspolitik-notfallsystem-seenotrettung-mittelmeer

https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-06/grenzschutz-frontext-mitarbeiter-budget-eu-kommission

https://www.boell.de/de/2019/04/04/unverbluemter-protektionismus

https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=uriserv:OJ.C_.2007.306.01.0001.01.DEU&toc=OJ:C:2007:306:FULL

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