Der Mensch liebt Geschichten und die einfachen Wahrheiten. Im Bereich der Verhaltensökonomik wurde der "Halo-Effekt" bereits ausgiebig erforscht. Gerade im Unternehmensalltag sorgt dieser Effekt dafür, dass wir systematischen Fehleinschätzungen aufsitzen.
Wie lässt es sich sonst erklären, dass der Weltmeister-Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft, Joachim Löw, bis Anfang Juni 2018 als innovativ, empathisch, flexibel und entscheidungsfreudig galt und keine vier Wochen später als altbacken, orientierungslos, starr und zu wenig entscheidungsfreudig? Dazwischen lag die WM 2018, bei der das deutsche Team als amtierender Fußball-Weltmeister sang- und klanglos bereits in der Vorrunde ausschied.
Den Namen Joachim Löw könnte man im aktuellen Kontext auch durch Julian Nagelsmann ersetzen. Letztgenannter wurde lange als größtes Trainer-Talent der Welt gefeiert. Nach zwei peinlichen Niederlagen der deutschen Nationalmannschaft in den letzten Tagen wurde schon ein erster Abgesang angestimmt.
Im Fußball gab es lange auch den "Fluch der Nutella-Boys" um Benjamin Lauth, Kevin Kuranyi, Arne Friedrich, Andreas Hinkel & Co. Es wurde gemunkelt, dass die vielversprechenden DFB-Nachwuchskicker mit einem Fluch belegt sind, nachdem ihre Karriere ins Stottern geraten war, seitdem sie erstmals Werbung für die süße Nusscreme machten.
Forbes Cover als Fluch?
Einen solchen Fluch gab es nicht nur bei den "Nutella-Boys", sondern auch bei den Covergesichtern und Coverfirmen des Forbes-Magazins. Die folgende Abb. 01 zeigt exemplarische "Vorbilder" wie Elizabeth Holmes, Sam Bankman-Fried, die Silicon Valley Bank und Changpeng Zhao.
Abb. 01: Forbes-Cover mit "Vorbildern" [Quelle: Forbes]
Zur Einordnung der genannten Personen und Unternehmen:
- Elizabeth Holmes galt als Theranos-Gründerin lange Zeit als US-Biotech-Pionierin. Sie versprach, Bluttests zu revolutionieren und gab an, es würden bereits wenige Tropfen Blut genügen, um komplexe Tests durchzuführen. In Finanzierungsrunden wurde ihr Unternehmen mit neun Milliarden US-Dollar bewertet, ehe sich herausstellte, dass die Technologie nicht funktionierte und Holmes im November 2022 des Anlagebetrugs schuldig gesprochen und zu elf Jahren Haft verurteilt wurde.
- Sam Bankman-Fried war mit seiner Plattform FTX einer der Krypto-Pioniere. Er hatte zu Spitzenzeiten rund acht Millionen Kunden, davon Hunderttausende in Deutschland und Europa. Er veruntreute Kundengelder und sorgte für einen Schaden von acht bis zehn Milliarden US-Dollar. SBF, wie er genannt wurde, wurde vom New Yorker Gericht in allen Punkten schuldig gesprochen. Das genaue Strafmaß wird zwar erst im März 2024 verkündet, Experten rechnen aber mit mindestens 10 Jahren Freiheitsstrafe. Der "Goldjunge der Kryptowelt" wurde von Stanford-Professor Martin Kulldorff auf Twitter in "Scam Bankman Fraud" umgetauft.
- Die Silicon Valley Bank (SVB) hatte ebenfalls sehr hochfliegende Ambitionen. Wie sich allerdings herausstellte, vernachlässigte das Institut jegliche Form von Risikomanagement viel zu lange und hatte nicht einmal einfachste Sicherheitsmechanismen umgesetzt. Selbst die "goldene Bilanzregel" wurde sträflich missachtet, sodass es im Marz 2023 zu einem Dominoeffekt mit einem Ausfall der lange Zeit gehypten Bank kam.
- Seit wenigen Tagen hat die Forbes "Hall of Fail" einen weiteren Neuzugang. Mit Binance-Gründer und CEO Changpeng Zhao ist es ein weiterer Krypto-Pionier, der grandios gescheitert ist. Er trat mit sofortiger Wirkung zurück und bekannte sich der Geldwäsche schuldig. Außerdem wird Binance nach eigenen Angaben rund 4,3 Milliarden US-Dollar an Geldstrafen zahlen.
Cheerleader-Effekt
Das große Problem ist häufig, dass wir unsere Geschichten und Erklärungen zu sehr für Vorhersagen heranziehen. Unsere Erklärungen und subjektiven Empfindungen erscheinen damit realer und objektiver als sie tatsächlich sind. Besonders kritisch wird es immer dann, wenn negative Entwicklungen allzu lange von bestimmten, als positiv wahrgenommenen Eigenschaften überstrahlt werden. Dies war wohl in allen genannten Beispielen der Fall.
Ein anschauliches Beispiel ist der sogenannte "Cheerleader-Effekt", der besagt, dass eine einzelne Person in einer Gruppe von Menschen attraktiver wirkt als für sich allein betrachtet. Die Attraktivität der Cheerleader-Gruppe als Ganzes überstrahlt die tatsächliche Attraktivität der einzelnen Mitglieder. Aufgegriffen wurde diese kognitive Verzerrung in der US-Fernsehserie "How I Met Your Mother", als die Figur Barney Stinson seinen Freunden den Effekt in einer Bar erläutert: Eine Gruppe von Frauen, die soeben die Bar betrat, sah in Summe ansprechender aus, als wenn man die Frauen einzeln betrachtet (4. Staffel, Episode 7, Folge "Der Nicht-Vatertag"). Denn als die Kamera auf die einzelnen Damen zoomte, sah man plötzlich Zahnfehlstellungen, Piercings an allen Stellen des Gesichts und überdimensionierte Augenbrauen. Die beiden US-Psychologen Drew Walker und Edward Vul konnten diesen Effekt in fünf Experimenten mit über 130 Versuchspersonen empirisch nachweisen.
Faktor Glück im Risikomanagement
Nicht nur bei den Forbes-Covern, sondern auch bei Best Practices und Blaupausen von hocherfolgreichen Unternehmen sollte immer eine kritische Distanz eingehalten werden. So erklärt beispielsweise der Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 2002, Daniel Kahneman, dass Bestseller wie "Immer erfolgreich" (im Original: Built to Last) oder auch "Auf der Suche nach Spitzenleistungen" (im Original: In Search of Excellence) ebenfalls dem Halo-Effekt aufsitzen.
Denn bei der Analyse der Unternehmen, bei denen eines erfolgreicher war als das andere, wird dem Faktor Zufall und Glück keine oder nur eine untergeordnete Rolle zugestanden. Stattdessen werden hochkonsistente Muster erarbeitet, anhand derer "ein visionäres Unternehmen aufgebaut werden könne".
Dies wird auch dadurch unterstützt, dass die Qualität von Führungsteams und Managementpraktiken (bisher) nicht empirisch belegt werden konnte. Vielmehr ist der Vorsprung der, in der Studie untersuchten, herausragenden zu den weniger erfolgreichen Unternehmen im Hinblick auf die Ertragskraft und die Aktienrendite praktisch auf null gesunken. Gleiches galt für die Unternehmen aus dem Buch "Auf der Suche nach Spitzenleistungen". Dies zeigt sich allein an Firmen wie Citigroup, Hewlett Packard, Motorola oder Sony, die zwar weiterhin am Markt tätig sind, aber bei Weitem nicht mehr alle Wettbewerber überflügeln.
To-Dos für das Risikomanagement
Das Risikomanagement braucht Geschichten. Diese müssen aber möglichst objektiv nachvollziehbar und gut fundiert sein. Damit wird einerseits sichergestellt, dass die Kernbotschaft klar und einfach gesendet wird und andererseits, dass keine Illusionen Teil des Risikomanagements werden.
- Einfache Regeln und Zusammenhänge
Trotz aller Euphorie und Erfolgsgeschichten sind es regelmäßig die einfachen Regeln und fundamentalen Zusammenhänge, die nicht (dauerhaft) außer Kraft gesetzt werden können. Vielmehr sollten in allen Risikomanagement-Entscheidungen auch angemessen die einfachen Zusammenhänge zur Validierung herangezogen werden. Themen wie die "goldene Bilanzregel" oder Risikotragfähigkeit und Kapitalplanung werden nie obsolet werden.
Nur durch ein gutes Risikomanagement und einen klaren moralischen Kompass, kann der Fortbestand und die Entwicklung eines Unternehmens positiv gestaltet werden. Dies zeigte sich sehr deutlich an den vier Beispielen der ehemaligen Superstars im Wirtschaftskosmos. Mängel im Risikomanagement bedeuten schnell ein erhebliches Risiko im Management!
In diesen Kontext ließe sich auch die aktuelle politische Diskussion über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stellen, wonach die 60 Milliarden Euro zur Bekämpfung der Corona-Krise nicht einfach für den Klimaschutz genutzt werden dürfen. Dies wurde schnell als "schwarzer Schwan" abgetan, da man eine solche Entscheidung ja "nicht vorhersehen konnte" und es "in der Vergangenheit immer schon so gemacht wurde". Dies ist alles falsch. Es handelte sich hier maximal um einen "dreckigen" weißen Schwan. Allein die Rede des CDU-Politikers Mathias Middelberg vom Oktober 2022 macht deutlich, dass es zumindest bereits "schwache Signale" gab, dass es zu einer solchen Situation kommen könnte. Ein guter Risikomanager hätte auf dieser Basis zumindest einen soliden Stresstest durchgeführt. Bereits einfache Grundregeln hätten transparent gemacht, dass man einen zugesagten Kredit nicht einfach für andere Ausgaben ummünzen kann. Der Häuslebauer darf seinen zugesagten Kredit für die Hausfinanzierung nicht einfach für die Finanzierung seiner Weltreise verwenden. Nicht selten hilft "gesunder Menschenverstand", um derartige Fehlentwicklungen zu erkennen. Er ist eher erstaunlich, dass erst das oberste deutsche Gericht hierauf hinweisen muss. - Fakten statt Fantasie
Was sich einfach anhört, ist häufig sehr schwer: Fokus auf Fakten statt (allzu viel) Fantasie. Speziell bei innovativen Produkten und Aktivitäten in neuen Märkten, ist automatisch eine große Portion an Euphorie und Fantasie dabei, wenn Zukunftserwartungen projiziert werden. Auch hier ist es wichtig, systematische Fehleinschätzungen und Verzerrungen zu vermeiden.
Speziell Erfolgsaussichten werden systematisch überschätzt. Dies zeigt sich etwa beim Überlebensirrtum. Dieser geht zurück auf den Zweiten Weltkrieg. Hier schickten die Engländer fast täglich Bomber über den Ärmelkanal. Ein Unterfangen, von dem nicht alle Piloten lebend zurückkamen. Sie analysierten die Einschusslöcher der zurückgekehrten Maschinen und verstärkten an diesen Stellen die Panzerung. Die Überlebensrate erhöhte sich dadurch aber nicht und es wurde gemutmaßt, dass die Panzerung unter Umständen zu schwer und die Flugzeuge dadurch nur noch schlecht manövrierbar wären. Erst der ungarische Mathematiker Abraham Wald entlarvte schließlich den "Überlebensirrtum" und hatte einen auf den ersten Blick relativ merkwürdigen Vorschlag: die Flugzeuge sollten dort gepanzert werden, wo es keine Einschusslöcher gab. Denn Treffer an diesen Stellen (nämlich dem 1,5 x 2m großen Bereich, in dem sich der Tank befand) führten zum Absturz bei den nicht zurückgekehrten Maschinen. Und umgekehrt hatten die heimgekehrten Maschinen nur dort Einschusslöcher, wo diese kaum Schaden anrichten konnten.
In Anlehnung an Abraham Wald zeigt sich häufig auch im Risikomanagement, dass erst ein ungetrübter Blick auf die Fakten dazu führt, dass die Risikolage klar dargestellt und objektiv beurteilt werden kann (siehe hierzu das exzellente Buch Factfulness des schwedischen Mediziners und Statistikers Hans Rosling). Allzu große Popularitätswerte von Firmen und Firmengründern können diesen ungetrübten Blick schnell verdecken. - Je steiler die Hierarchien, umso höher das Risiko
Bei vielen großen Unternehmenspleiten und Schadensfällen der Vergangenheit zeigte sich immer wieder ein Muster: unantastbare Egomanen konnten ohne wirkliches Vier-Augen-Prinzip und ohne ein starkes Korrektiv schalten und walten wie sie wollten. Im Fall Wirecard waren es Markus Braun und Jan Marsalek, bei der Signa Holding war es der alles überstrahlende René Benko und auch bei der Siilicon Valley Bank sowie den drei weiteren Forbes-Coverstars zeigten sich große Schwächen in der Internal Governance.
Für jeden Risikomanager und Verfechter einer ausgeglichenen "Power Balance" sind auch die aktuellen Entwicklungen um OpenAI und den ehemaligen und kurze Zeit schon wieder aktuellen CEO Sam Altman sehr interessant zu sehen. Im Raum standen Vorwürfe des Aufsichtsrats, der über mangelnde Transparenz und Information klagte und ausführte, dass durch die Nicht-Kommunikation des CEOs mit dem Aufsichtsorgan keine wirksame Kontrolle erfolgen kann. Als Konsequenz wurde Altman entlassen. Dieser wiederum kehrte nach einer Revolte der Belegschaft und Aktionäre zurück, nachdem kurzzeitig auch ein Microsoft-Engagement im Raum stand. Der Aufsichtsrat wird als Konsequenz der weiter gestiegenen Machtfülle von Altman wohl gesammelt seinen Hut nehmen (müssen). Ein ausgewogenes Machtgefüge sieht definitiv anders aus!
Um Fehlentwicklungen insbesondere auch bei steilen Hierarchien frühzeitig zu erkennen, ist ein Hinweisgebersystem gesetzlich verankert worden. Ein solches Whistleblowing-System kann und soll dazu führen, existenzielle Gefahren und interne Betrugsfälle abzumildern. Gänzlich verhindern lassen sie sich wohl nie. - Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
Je angespannter und prekärer die Lage ist, umso wichtiger wird der Faktor Vertrauen. Unvergessen ist die gemeinsame Pressekonferenz der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihres Finanzministers Peer Steinbrück auf dem Höhepunkt der Finanzkrise im Oktober 2008, als beide zusicherten, dass die Spareinlagen sicher seien.
Teil eines guten Risikomanagement ist es, sich auch regelmäßig persönlich von der tatsächlichen Risikosituation selbst zu vergewissern. Dies können Vor-Ort-Besichtigungen und Besprechungen, aber auch IT-gestützte Auswertungen sein. Risikomanager dürfen sich nicht hinter ihren Bildschirmen verstecken, sondern müssen mit Menschen sprechen und sich vor Ort mit den Fakten vertraut machen. Hierzu gehört eine interdisziplinäre und unideologische Sicht auf die Realität.
Es sind also allesamt keine völlig neuen Tools und Techniken nötig. Vielmehr ist es wichtig, dass Sie sich der zentralen Schwachstellen Ihres Systems und der Anfälligkeit Ihrer Entscheidungen bewusst werden. Nur so lassen sich kapitale Fehler bei der Einschätzung von Risikoszenarien vermeiden.
Autor:
Dr. Christian Glaser ist promovierter Risikomanager und als Geschäftsführer eines namhaften Finanzdienstleisters tätig. Er ist außerdem Dozent an mehreren Hochschulen und Buchautor mehrerer Fachbücher sowie zahlreicher Fachveröffentlichungen in den Bereichen Finanzdienstleistungen, Unternehmensführung und Management, Controlling sowie Risikomanagement.