Elbphilharmonie, Stuttgart 21, Flughafen Berlin Brandenburg – so ziemlich jedes Großprojekt mutiert aufgrund massiver Planabweichungen zu einem Milliardengrab. So war die Fertigstellung des Skandalprojekts Elbphilharmonie ursprünglich für das Jahr 2010 geplant. Im März 2011 wurde die Eröffnung für das Jahr 2013 angekündigt und nun endlich soll das Konzerthaus in der HafenCity Ende 2016 eröffnet werden. Und auch die Kosten wurden um ein Mehrfaches überschritten. Aus den ursprünglichen 77 Millionen Euro Kosten für die Hansestadt Hamburg beziehungsweise den Steuerzahler sind in der Zwischenzeit rund 790 Millionen Euro geworden. Eine satte Planabweichung um das mehr als Zehnfache. Die Mehrzahl der privatwirtschaftlichen Unternehmen würde in der Folge solcher Zielabweichungen Insolvenz anmelden, da die Risikodeckungsmasse in Form von Eigenkapital aufgezehrt wäre. Die öffentliche Hand hingegen kennt keine begrenzte Risikotragfähigkeit. Der "deutsche Michel" wird die Planabweichungen schon irgendwie stemmen.
Kein anderes Bild beim BER-Projekt, dem Bau des Skandalflughafens Berlin Brandenburg, das aktuell durch diverse Korruptionsskandale von sich reden macht. Berlin ist in der Folge eines grotesken Projektmanagements zum Gespött einer ganzen Nation geworden. Aus den ursprünglich geplanten 1,7 Milliarden Euro im Jahr 2004 sind aktuell mindestens 5,4 Milliarden Euro geworden. Ein bereits vorhandener Reputationsschaden sowie potenzielle Schadensersatzansprüche sind hier noch nicht eingerechnet. Insider gehen davon aus, dass eine Eröffnung des BER-Flughafens nach dem Jahr 2017 erfolgen wird.
Sind Projektmanager schlechte Risikomanager?
Was sind die Gründe? Bent Flyvbjerg, Professor für Stadtplanung an der renommierten Universität Oxford, hat hierauf eine klare Antwort. Für in sind die Planabweichung kein Zufall: "Die meisten Projektmanager sind Dummköpfe oder Lügner", sagt der Ökonom jüngst in einem Interview mit dem Nachrichtmagazin Spiegel. Um den Zuschlag zu erhalten, werden die Projektkosten möglichst niedrig dargestellt. Somit wird der ökonomische Nutzen als gewaltig und die Bauzeit als minimal dargestellt. Und Politiker, so seine Analyse sind gierig nach Prestigeprojekten und blenden Risiken und potenzielle Planabweichungen erst mal aus. Denn eine realistische Risikoeinschätzung könnte dazu führen, dass ein Projekt erst gar nicht gestartet wird. Eine retrospektive Analyse zeigt, dass Großprojekte nicht selten auf einer Mischung aus Wunschdenken, Zweckoptimismus und Realitätsverlust und nicht selten auch Größenwahn basieren.
Wie kann es sein, dass Investitionsvorhaben und Großprojekte mit ihren offenbar unvermeidlichen zeitlichen Verzögerungen, massiven Kostenüberschreitungen und eklatante vertragswidrige Schlechtleistungen immer wieder die Schlagzeilen der Medien bestimmen? Naturgemäß bringen Großprojekte eine hohe Komplexität mit sich – oft zeigt sich das tatsächliche Ausmaß der während der Realisierungsphase auftretenden Probleme jedoch erst gegen Ende bzw. nach Abschluss eines Projektes. Nicht erkannte bzw. nicht angemessen berücksichtigte Risiken sowie die in jedem Großprojekt unabdingbaren Rahmenbedingungen, die bei der Planung von Investitionsvorhaben und Großprojekten häufig nicht ausreichend betrachtet werden, spielen beim Projekterfolg die entscheidende Rolle.
Daher sollte ein professionelles Projektmanagement immer durch ein angemessenes Projekt-Risikomanagement begleitet werden, um Ursachen und Auslöser sowie die Wirkungen möglicher Planabweichungen bereits im Vorfeld zu identifizieren und zu analysieren, um rechtzeitig geeignete Maßnahmen zu entwickeln sowie bei Bedarf konkret gegenzusteuern. So die reine Lehre. Wie sieht die Realität aus?
Status Quo des Projekt-Risikomanagements
Ziel einer aktuellen Studie war es, herauszufinden, wie mittelständische Unternehmen ihre Projektrisiken identifizieren, steuern, und überwachen und welche Methoden und Instrumente dabei zum Einsatz kommen. Zu diesem Zweck haben die Autoren der Studie, die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Rödl & Partner sowie der Versicherungsmakler Funk, insgesamt 179 Geschäftsführer, Vorstände, Risikomanager und Experten aus anderen Funktionen zu verschiedenen Themen im Kontext Projekt-Risikomanagement befragt. Mehr als die Hälfte der teilnehmenden Unternehmen stammte aus der Automobilbranche, der Dienstleistungsbranche, dem Baugewerbe, der Energie- und Wasserversorgung, der Lebensmittelindustrie bzw. dem Maschinenbau.
Abbildung 1: Teilnehmende Branchen der Studie
Keine gesteigerte Sensibilität durch aktuelle Skandalprojekte
Das regelmäßige Scheitern der plangemäßen Realisierung von Großprojekten und Investitionsentscheidungen ist keine Gesetzmäßigkeit, keine inhärente Eigenschaft eines Projektes, sondern das Resultat individueller Fehlentscheidungen, eines Missmanagements sowie menschlicher oder organisatorischer Schwächen, so die Studienautoren. Durch die aktuelle Häufung in der medialen Berichterstattung hat sich in der jüngsten Vergangenheit beinahe zwangsläufig der Eindruck aufgedrängt, dass es in vielen Großprojekten bei einer nahezu planmäßig realisierten Zerstörung von Werten offenbar keinerlei positive Entwicklung gibt und damit kaum ein Fortschritt mit Verbesserungen im Zeitablauf zu verzeichnen ist. Doch was lernen die Unternehmen aus den Projektskandalen?
Trotz aufsehenerregender Schlagzeilen zu Fehlentwicklungen im Projekt-Risikomanagement – sowohl im öffentlichen als auch im privatwirtschaftlichen Sektor – nehmen mehr als zwei Drittel der befragten Teilnehmer keine direkten Auswirkungen auf ihr eigenes Unternehmen wahr. Insgesamt hat immerhin ein Drittel der befragten Unternehmen (33 Prozent) reagiert und Maßnahmen ergriffen. Im Einzelnen haben 10 Prozent der befragten Unternehmen eine Anpassung der Risikomanagement-Strategie vorgenommen. 17 Prozent der teilnehmenden Unternehmen äußerten, dass es situative Anpassungen im Projekt- sowie Risikomanagement gegeben habe. Lediglich 9 Prozent streben eine konkrete Ausweitung ihrer Tätigkeiten und eine personelle Aufstockung im Projekt- und Risikomanagement sowie die Durchführung von Schulungen hierzu an.
Abbildung 2: Wie schätzen Sie die direkten Auswirkungen der medialen Berichterstattung über Misserfolge bei Großprojekten auf Ihr eigenes Unternehmen ein?
Ein Viertel der Unternehmen im Blindflug unterwegs
Knapp zwei Drittel der befragten Unternehmen gibt an, über ein selbst entwickeltes Risikomanagement-System zu verfügen, das allerdings keinem formellen Risikomanagement-Standard entspricht. In mehr als einem Viertel der befragten Unternehmen existiert überhaupt kein formelles Risikomanagement-System, das heißt sie sind im Wesentlichen im Blindflug unterwegs. Nicht selten folgen Unternehmen dem Rheinischen Grundgesetz, Artikel 2 ("Et kütt wie et kütt") und Artikel 3 ( "Et hätt noch emmer joot jejange").
Immerhin knapp jedes achte befragte Unternehmen arbeitet mit einem Risikomanagement-System, das auf einem der genannten Risikomanagement-Standards beziehungsweise -Frameworks basiert.
Abbildung 3: Inwieweit wenden Sie Risikomanagement-Standards in Ihrem Unternehmen an?
Risikomanagement stiftet über die Erfüllung formeller Vorgaben hinaus ("Risikobuchhaltung") immer dann einen betriebswirtschaftlichen Nutzen, wenn die aus dem eingesetzten Risikomanagement-System generierten Informationen auch für eine wert- und risikoorientierte Unternehmensplanung verwendet werden. Unternehmen sollten schon darin einen Selbstzweck sehen und die verwendeten Risikomanagement-Systeme nicht nur als "zahnlose Papiertiger" oder ein "potemkisches Dorf" behandeln. Risikomanagement ist eine Führungsaufgabe, die vom verantwortlichen Management entsprechend vorgelebt werden muss.
Projektrisiken werden nicht zentral analysiert
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass mehr als ein Drittel der Unternehmen weder allgemeine noch projektspezifische Risiken zentral sammelt und auswertet. Lässt dieses Ergebnis die Annahme zu, dass diese Unternehmen weder Projekt-Risikomanagement betreiben noch über ein unternehmensweites Risikomanagement verfügen? Zumindest kann aus diesem Ergebnis dahingehend Handlungsbedarf unterstellt werden, in diesen Unternehmen das Zusammenwirken zwischen Risiko- und Projektmanagement ernsthaft auf den Prüfstand zu stellen.
Jedes dritte befragte Unternehmen hingegen lässt projektspezifische Risiken bei den sogenannten Risk Ownern abfragen, sammelt diese und wertet sie zentral aus. Bei mehr als einem Drittel der befragten Unternehmen werden turnusmäßig sowohl die allgemeinen Risiken bei den sogenannten Risk Ownern abgefragt, zentral gesammelt und ausgewertet als auch projektspezifische Risiken von den Projektmanagern erfasst und im Rahmen der Maßnahmen des Risikomanagements weitergemeldet.
Die Studienergebnisse zeigen auf, dass allgemeine und projektspezifische Risiken in vielen Fällen in voneinander unabhängigen Prozessen bearbeitet werden. Sich gegenseitig bedingende Abhängigkeiten und Auswirkungen der einzelnen Risiken zueinander werden in der Folge nicht erkannt, aber auch mögliche Synergien durch eine geschickte Verzahnung der beiden Prozesse werden nicht genutzt.
Die Empfehlung der Autoren ist eindeutig: Unternehmen, die überwiegend in Projekten arbeiten, sollten Projektrisiken auf Projektportfolio-Ebene aggregieren, denn eine unternehmenskritische Auswirkung ergibt sich oftmals nur aus dem in der Regel zufälligen Zusammenwirken mehrerer sogenannter unglücklicher Umstände, die dann eben nur nicht singulär auf Projektebene eintreten und "wie eine Bombe einschlagen", sondern möglicherweise gleich mehrere Projekte gleichzeitig betreffen.
Abbildung 4: Erfassung allgemeiner und projektspezifischer Risiken
In diesem Kontext verwundert es nicht, dass lediglich 28 Prozent der befragten Unternehmen über keine fortlaufenden Prozesse zur Risikoidentifikation und Risikoüberwachung verfügen, wohingegen 30 Prozent diesen Prozess bereits komplett eingerichtet und institutionalisiert haben.
Risiken ignorieren bringt sie nicht zum Verschwinden
Gründe für Fehlentwicklungen oder Missmanagement in Großprojekten sind oft in Risiken zu finden, die bei der Planung des Projektes nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Die Studie zeigt auf, dass nur eine Minderheit der Unternehmen alle wesentlichen Projektrisiken hinsichtlich der getroffenen Plan-Annahmen sowie deren gegenseitiger Abhängigkeiten und Wechselwirkungen identifiziert und analysiert. Jedes dritte befragte Unternehmen untersucht und verfolgt Plan-Annahmen einzeln im Hinblick auf die Realisierbarkeit des Projektes. Knapp 20 Prozent der Unternehmen betrachtet nur ein Best-, Normal- oder Worst-Case-Szenario. 16 Prozent der Unternehmen untersuchen Planabweichungen in ihrer Korrelation und passen ihre Planung laufend an. Ebenfalls 16 Prozent der Unternehmen hinterfragt jede Plan-Annahme, bewertet diese und bezieht sie quantitativ in die Best-, Normal- und Worst-Case-Szenario-Betrachtung mit ein. 15 Prozent der Unternehmen betrachtet die budgetierten Kosten hinsichtlich ihrer Verteilungskurven und passt das Best-, Normal und Worst-Case-Szenario laufend an.
Die Studienautoren weisen darauf hin, dass ein professionelles Projekt-Risikomanagement nicht nur alle wesentlichen Risiken im Hinblick auf die getroffenen Plan-Annahmen analysiert. Darüber hinaus werden die ermittelten Risiken hinsichtlich ihrer gegenseitigen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen analysiert, für die gilt: Je größer das Projekt, desto größer und zahlreicher auch die sich gegenseitig bedingenden Einzelrisiken.
Ein Blick in die Praxis zeigt, dass Planabweichungen in der Regel nicht durch die (negativen) Wirkungen von Einzelrisiken ausgelöst werden, sondern durch die Auswirkungen einer Kombination von zwei oder mehr Risiken. Erst die komplexe Verknüpfung von Einzelrisiken ist daher von besonderer Bedeutung für das Projekt-Risikomanagement. Risikokategorien dürfen deshalb ebenfalls nicht losgelöst voneinander erfasst und analysiert werden, da Risiken regelmäßig durch positive und negative Rückkoppelungen miteinander verbunden sind.
Abbildung 5: Bewertung wesentlicher Plan-Annahmen in Großprojekten
Vorsorge ist besser als heilen
Die Studienautoren zeigen auf, dass die Identifikation und Analyse von Risiken bereits zu Beginn eines Projektes durchgeführt werden sollte, da potenzielle Änderungskosten in Projektvorhaben im Projektverlauf exponentiell steigen können. Die kritischen Erfolgsfaktoren der Risikoidentifikation liegen in ihrer vollständigen und frühzeitigen Erfassung. Ausgangspunkt für die Risikoidentifikation ist eine kategorisierte Erfassung der Risiken in Form einer Risikoinventur. Ein Analyse der Gartner Group zeigt auf, dass basierend auf einem etablierten Projekt-Risikomanagement etwa 20 Prozent der Projekte nach der Planungs- und Konzeptphase abgebrochen werden, lange bevor in der Ausführungsphase das große Geld ausgegeben wird.
Je früher eine strukturierte Risikoanalyse vor dem Projektstart beginnt, desto besser. Ein Mangel vieler Projekt-Risikomanagement-Prozesse ist, dass sie erst nach dem Projektstart beginnen. Es ist jedoch entscheidend, sich bereits in der Akquisitionsphase bzw. der Vorbereitungsphase des Projekts mit potenziellen Risiken zu beschäftigen. So sollten beispielsweise die beiden folgenden Fragen beantwortet werden: 1. Wie sind potenzielle Risiken zu bewerten, wenn das Projekt durchgeführt wird? 2. Wie sind potenzielle Risiken zu bewerten, wenn das Projekt nicht durchgeführt wird bzw. auf eine Angebotsabgabe verzichtet wird?
Neben einer Analyse der technischen Machbarkeit sowie einer Bewertung strategischer und wirtschaftlicher Aspekte bildet eine fundierte Risikoanalyse das Fundament für die Entscheidung für oder gegen eine Angebotsabgabe. Ein Blick in die Praxis bestätigt, dass in dieser Phase der größte Teil der Risiken für die weiteren Phasen des Projekts definiert werden. Typische Ursachen für zukünftige Risikoeintritte und Planabweichungen sind beispielsweise interpretierbare und nicht rechtssichere Vertragsformulierungen, offene Punkte, deren Klärung in die Zukunft verschoben wird oder auch ein nicht klar definierter Projektumfang.
Die Ursache-Risiko-Wirkungs-Formel
Bei der Bewertung der Projektrisiken sollte darauf geachtet werden, dass Risiken eindeutig von Ursachen und Wirkungen getrennt werden (siehe Bow-Tie-Diagramm). Ursachen können Projektrisiken auslösen. Ursachen sind grundsätzlich nicht ungewiss und sollte daher auch nicht mit Risiken verwechselt werden. Beispiele für Ursachen wäre die Erprobung einer neuen Technologie, das Fehlen von qualifiziertem Personal oder auch eine politische Beeinflussung der Projektziele.
Risiken sind hingegen potenzielle Ziel- oder Planabweichungen, die in den dunklen Seitengängen einer ungewissen Zukunft lauern. Mögliche Abweichungen von den geplanten Projektzielen stellen Risiken dar – und zwar sowohl negative ("Gefahren") wie auch positive Abweichungen ("Chancen").
Eingetretene Risiken wiederum können unterschiedliche Wirkungen, beispielsweise auf das Projektbudget bzw. die Projektziele, haben. So führten Zielabweichungen beim Katastrophenprojekt BER beispielsweise zu Budgetüberschreitungen, zu Reputationsverlusten sowie zu Schadensersatzklagen.
Mit einem präventiven Risikomanagement könnte viele potenzielle Planabweichungen verhindert sowie Milliarden an Budgets und Steuergeldern geschont werden. Hierzu gehört auch eine offene und ehrliche Kommunikation über Risiken. Eine darauf resultierende höhere Risikotransparenz führt zu einer präventiven und aktiven Steuerung potenzieller Risiken und reduziert zukünftige Überraschungen. Der Autor und Berater Tom Gilb hat dies in einem Satz treffend auf den Punkt gebracht: "If you don’t actively attack the risks, they will actively attack you".
Die komplette Studie kann hier angefordert werden.