In einer Welt stetig wachsender Kompliziertheit ist es unsere Aufgabe unser Produkte und Prozesse in Analysemodellen zu beschreiben. Um dieser Herausforderung aus dem Weg zu gehen, gibt es bei einigen Kollegen und Kunden die Tendenz zu einfachen Risikoanalysen aus dem letzten Jahrhundert. Als Beispiel hören wir immer wieder von FMEA-Moderatoren, die wieder vermehrt in Formblättern arbeiten wollen. Das hört sich für uns genauso absurd an, wie die Forderung anstelle mit CAD wieder mit Transparent und Tusche konstruieren zu wollen.
Definieren wir erst mal die Begriffe trivial, kompliziert, komplex und chaotisch.
- Trivial sind einfache, lineare kausale, einfach zu erklärende Zusammenhänge.
- Kompliziert sind verschachtelte kausale Zusammenhänge mit vielen Variablen, die wir ungenügend verstehen aber vorhersagbar sind.
- Komplex sind exponentielle Funktionen die zunächst beherrschbar erscheinen, aber im Extremfall weder beherrschbar noch berechenbar sind. Komplexe Systeme sind in der linearen Ebene durchaus beherrschbar.
- Chaotisch sind zufällige und unscharfe Funktionen, die weder beherrschbar noch berechenbar sind
Abb. 01: Random, Complex, Complicated, Simple [Quelle: Priv.-Doz. Dr. Dr. Dipl.-Psych. Guido Strunk, Complexity-Research (Wien)]
Kurz gesagt: Bei trivialen und komplizierten Anforderungen können wir die Folgen voraussagen – bei komplizierten und chaotischen Systemen nicht. Somit unterhalten wir uns ab jetzt über komplizierte Systeme. Wobei es wichtig ist komplexe und chaotische Systeme rechtzeitig zu erkennen und zu vermeiden, wenn es uns um kontrollierte Applikationen geht.
Zunächst war hier die Frage: Ist die Managementmethode FMEA (Failure Mode and Effects Analysis, deutsch: Fehlermöglichkeits- und -einflussanalyse) in stetig komplizierteren oder vielleicht sogar komplexeren Systemen sinnvoll? Besser für uns FMEA-Spezialisten wäre aber zu fragen: Wie bringen wir die FMEA in komplizierten Systemen zu einem vernünftigen Nutzen-/Aufwandverhältnis?
Wird die Welt tatsächlich komplizierter oder verstehen wir immer mehr Dinge, wodurch wir auch mehr sehen und das dann für kompliziert halten. Sind die Naturgesetze erfunden oder nur detaillierter beschrieben worden. Wurden die ursprünglich, durch die Religion, erklärten Welt-Modelle durch Differenzierung so kompliziert, dass sich sämtliche Management-Werkzeuge in schnell wachsender Geschwindigkeit sich immer neu erfinden und wir ständig nach Vereinfachungen lechzen. Oder sind das nur Geschäftsmodelle findiger Consultants?
Schauen wir uns die aktuelle Situation genauer an. Wir FMEA-Moderatoren spüren immer häufiger, dass die bisherige Herangehensweise an die FMEA die Grenzen des Aufwandes und der Modellierbarkeit überschreitet. Daher versuchen wir Kompliziertheit zu vermeiden. Diese passt oft nicht mehr in die herkömmlichen Muster. Dennoch oder gerade deswegen wird es immer wichtiger die möglichen Fehler und deren Folgen zu kennen und die Zusammenhänge zu verstehen.
Kompliziertere Produkte erfordern auch kompliziertere Organisationen und Prozesse. Hierunter leidet in der Folge auch der FMEA-Prozess. Somit wird es immer aufwendiger unsere Produkte und Prozesse zu überblicken. Um dem entgegen zu wirken sollten die Verursacher bekannt sein. Die sind:
- Anzahl der Zustände,
- Verhalten im Zeitablauf,
- Variantenvielfalt,
- Unberechenbarkeit der Interaktionen,
- Fehlendes Wissen über die Elemente, Funktionen und Zusammenhänge,
- Verteiltes Wissen in komplizierten organisatorischen Strukturen.
Der Trend ist klar: Neue Funktionen werden immer häufiger durch die Kombination mehrerer Systeme und deren Funktionen realisiert. Somit werden in der FMEA immer mehr Schnittstellen eingebaut, die dann zu noch komplizierteren Modellen führen.
Die Analyse eines modernen mechatronischen Systems enthält hunderte Funktionen die natürlich auch unzählig oft versagen können. Der Aufwand einer vollständigen FMEA steigt ins Unmögliche wenn man die heutig verkürzten Entwicklungszeiten und mit den beschränkten Kapazitäten berücksichtigt. Gleichzeitig mit der Reduktion von Sicherheitsrisiken müssen natürlich auch die Verfügbarkeiten erhöht und die Wartungszyklen reduziert werden (die Kostenreduktion hätte ich fast noch vergessen). Hierzu werden immer öfter redundante Systeme eingesetzt, die mittels der herkömmlichen FMEA-Analyse, mit der "ein-Fehler"-Modellierung, nur mit "Pfuscher-Tricks" darstellbar sind.
Künftig kommen immer mehr adaptive Algorithmen und künstliche Intelligenzen. Immer schnelleren Umsetzungen der Innovationen erschwert die Abschätzung der Effekte. Adam Schnellbach (AVL, Anstalt für Verbrennungskraftmaschinen List) fragt in dem QZ-Artikel Jahrgang 61 (2016) zu Recht: "Wie analysieren Sie ein System, das morgen in einem komplett anderen Kontext eingesetzt wird? Oder: Wie stellen Sie Funktionen sicher, die heute noch gar nicht bekannt sind?"
Mögliche Lösungen sind:
- Reduktion der Vielfalt;
- Vermeidung von Kompliziertheit;
- Zielgerichtete effektive Markanalysen vor Produktentwicklung führt zur Reduktion von Funktionen;
- Reduktion von Elementen und Schnittstellen;
- Einfache Organisationen und Prozesse;
- Vermeidung von Doppelarbeit.
Sollten diese Maßnahmen dennoch zu einem komplizierten System führen, bleibt nichts anderes übrig, als die geforderte Komplexität zu beherrschen. Hier hat sich in den letzten Jahren viel getan. Die Methode FMEA ist in starkem Wandel (beispielsweise 7-Schritte, mechatronische Modellierung, grafischer Darstellung von Netzen). Diese kann aber nur zusammen mit weiteren Methodiken wie modellbasierte Entwicklung (beispielsweise SysML, Simulink) und hochwertigen Prozessen (SPICE, agile Entwicklung etc.) sichere Produkte entstehen lassen.
Abb. 02: Typische Maßnahmen aus dem Umfeld der FMEA [Quelle: Magna Powertrain, FMEA konkret, Ausgabe 09/2017, S. 4]
Dennoch sind die Grenzen des Machbaren bereits sichtbar, denn die kognitiven Fähigkeiten des Menschen passen sich nicht schnell genug an die exponentielle Entwicklung der Kompliziertheit und Komplexität an. Methoden, wie beispielsweise FMEA, FMEDA oder FTA die bisher funktionierten, sind zum Teil noch aus der Steinzeit der technischen Revolution. Auch bei intelligenter Kombination der Methoden werden deren Schwachstellen immer hinderlich sein.
Auch wir müssen zugeben, dass die praktizierte FMEA bei komplizierten Systemen bezüglich Aufwand und Flexibilität oft an Ihre Grenzen kommt. Wir denken, dass ein Paradigmenwechsel unumgänglich wird. Welche Möglichkeiten sehen wir:
- Integration: Neue Methodik mit den Stärken von FTA und FMEA ohne deren Schwächen (beispielsweise Analysemodell Schnellbach/Werdich 2012);
- Aufwandsreduktion und Übersichtgewinn durch Analysen in höheren Abstraktionsebenen (beispielsweise Google Maps beim Zoomen). Die Markanforderung zu exponentiell komplizierteren Systemen kann nur dann exponentiell steigen, wenn wir auf fertige Module zurückgreifen, die wir nicht mehr in der Tiefe beherrschen müssen;
- Intelligente Simulationsmethoden (Simulation statt Berechnungen – reduziert tieferes System-Verständnis);
- Künstliche Intelligenz (automatische Analyse und Optimierung von Algorithmen – reduziert System-Verständnis noch mehr).
All diese Möglichkeiten führen selbstverständlich auch zu neuen und erhöhten Risiken, die genau untersucht werden müssen.
Was immer auch passiert, ohne uns FMEA-Experten geht nichts. Unser systematisches Denken, unsere analytischen Fähigkeiten sowie unsere Leidenschaft, die nie endenden Fehler von Produkten und Prozessen verstehen zu wollen, sichern uns auch in Zukunft unsere Existenz. Nur stehen bleiben dürfen wir nicht.
Autor:
Martin Werdich, Geschäftsführer FMEAplus Akademie GmbH, Ulm
Weiterführender Literaturhinweise:
- Impulse und Gedanken von Adam Schnellbach (AVL, Anstalt für Verbrennungskraftmaschinen List) über die Komplexität in der modernen Entwicklung.
- Adam Schnellbach/Martin Werdich: FMEA Evolution, FMEA-Forum, Osnabrück 2012