"Wie bei der irrwitzigen Wut eines Hundes, der sich in das Bein eines bereits toten Rehs verbissen hat und an dem erlegten Wild rüttelt und zerrt, so dass der Jäger ihn zu beruhigen aufgibt […]". So steht es im Prolog zum Buch "Eroberung des Nutzlosen" von Werner Herzog. Der Drehbuchautor und Filmemacher beschreibt darin die Dreharbeiten zu "Fitzcarraldo", in dem ein Dampfschiff über einen Berg im Dschungel gezogen wird. Das Zitat ließe sich auch auf aktuelle und nicht weniger wahnwitzige Ereignisse übertragen. Zwei Beispiele: Syrien und die Krise der Demokratie. Auch in diesen Kriegs-, Wirtschafts- und Politikkonflikten wird gerüttelt und gezerrt, verbeißen sich die Konfliktparteien in ihre "Opfer".
Syrien, Aleppo und die Schlachtbank der Welt
Ein Blick auf Syrien offenbart die Apokalypse unserer Zeit. Seit Jahren wüten Regierungstruppen, Mörderbanden und ausländische Mächte in diesem schier endlosen Konflikt. Die Folge: Mehr als 500.000 Tote und über 11 Millionen Syrer auf der Flucht haben das Land ausgezehrt und teils entvölkert. Wie ein Flickenteppich verteilen sich die unterschiedlichen Machtgebiete, haben die Konfliktparteien Syrien gespalten. Von der Weltgemeinschaft vergessen und dafür von ausländischen Kräften angeheizt – allen voran Russland, Iran, den USA und der Türkei – ist eine Spirale der Gewalt entstanden, die kaum zu stoppen scheint. Das Schlachtfeld Syrien ist ein Synonym für Stellvertreterkriege, die in fremden Ländern geführt werden. Ein Umstand, der sich 2016 mehr als deutlich zeigte.
Im Kern geht es den Kriegsparteien um Einfluss und Macht. Nicht mehr und nicht weniger. Russlands Engagement für Bashar al-Assad erklärt sich unter anderem durch die Sicherung seiner militärischen Interessen im Mittelmeer. Auch Iran und die USA spielen in diesem Konflikt mit gezinkten Karten. Während die Machthaber in Teheran Assad unterstützen und ihren Einfluss in der Region zu sichern suchen, unterstützt die US-amerikanische Administration mit Waffen und Militärberatern unterschiedliche Gruppen der sogenannten Rebellen. Und auch Deutschland unterstützt mit Militärhilfe kurdische Verbände. Mit dem direkten Eingriff der Türkei in den Konflikt zeigt sich zudem, dass die territoriale Integrität eines Landes, wie Syrien, nur noch auf dem Papier steht. Infolge des direkten oder indirekten Eingriffs unterschiedlicher Staaten in den Konflikt haben wir es in Syrien längst mit einem Krieg und keinem Bürgerkrieg mehr zu tun. Günther Schmid, renommierter Experte für internationale Sicherheitspolitik, sprach im Rahmen des RiskNET Summit 2016 von einer "Renaissance der Geopolitik". Diese Wiedergeburt der Geopolitik erkläre sich seiner Ansicht nach aufgrund der zunehmenden Dominanz in der Weltpolitik, den Zugang und die Kontrolle zu wichtigen strategischen Räumen zu erlangen. Syrien bietet hierzu ein Paradebeispiel aus dem Lehrbuch schmutziger Kriege.
Scheinheilige Gerechtigkeit
Dabei ist Aleppo nur ein Beispiel der Gräueltaten der unterschiedlichen Kriegsparteien. Fassbomben, Ermordung und Inhaftierung der Zivilbevölkerung, Zwang zum Militärdienst, Attentate, Bombenanschläge zeigen die ganze Klaviatur des Krieges. Mehr noch existieren in Syrien viele Aleppos, unbeobachtet von der Weltöffentlichkeit, weil ohne mediales Echo. Aleppo steht nach jahrelangen Kämpfen nun wieder unter der Herrschaft der Regierung. Zurück bleibt eine völlig zerstörte Stadt, in der noch immer zehntausende in Trümmern und Dreck ausharren. Und die Weltgemeinschaft? Diese hat abermals versagt, konnte nicht mehr als Lippenbekenntnisse aussprechen und verwickelte sich – auch aufgrund des Vetos Russlands und Chinas – in Binnenstreitigkeiten, denn auch auf internationalem Parkett zeigen sich die Gräben der unterschiedlichen Staaten und ihrer machtpolitischen Interessen. Und die versuchen jeweils zu ihren Gunsten Druck in die eine oder andere Richtung aufzubauen. Der Erfolg? Gleich null. Denn das angebliche Übel Assad ist nur eine Seite der Medaille. Es sei nur an Saddam Hussein oder Muammar al-Gaddafi erinnert. Jahrzehntelange Waffenlieferungen und wirtschaftliche Verflechtungen der westlichen Staaten sowie Russlands (vormals Sowjetunion) mit den Machthabern zeigen den ganzen Zynismus, mit dem frühere Freunde und Weggefährten der "Despoten" heute nach einer scheinheiligen Gerechtigkeit rufen. Damit haben die Staaten abermals eine Schlachtbank der Welt mit befeuert.
Das tote Reh: Syrien, an dem die Hunde zerren und rütteln – zum Leid der Zivilbevölkerung. Eine bittere Erkenntnis des vergangenen Jahres 2016.
Von neuen Mauern und dem drohenden Fall der Demokratie
Und auch Europa ist ein verwundetes Reh. Die Hunde: alle Scharfmacher Europas, die die Welt gerne eindimensional sehen. Das Motto 2016: Wir gegen den Rest. Beste Beispiele liefern Ungarn, Frankreich, die Niederlande oder Österreich. Und auch in Deutschland hat sich die Großwetterlage von einer "Willkommenskultur" hin zu einer harten Hand des Abschiebens verändert.
Politiker missbrauchen das Attentat von Berlin, um ihre eigene Agenda in den Vordergrund zu stellen und gegen die Flüchtlingspolitik Stimmung zu machen. CDU-Innenminister Klaus Bouillon spricht vom "Kriegszustand" und CSU-Chef Horst Seehofer fordert eine "Neujustierung" der Flüchtlingspolitik. Hierbei wird vergessen, dass Terrorismus vor allem dort gedeiht, wo Hass stärker ist als Vernunft. Und eines wissen Terroristen genau: Der wirksamste Sprengstoff ist Angst. Spätestens im Jahr 2016 sind wir hierzulande in der Realität angekommen. Die harte Landung ist auch der bevorstehenden Bundestagswahl 2017 geschuldet. Denn der AFD möchte weder CDU noch CSU das Feld überlassen. Damit wird die Rauten-Politik zur Faust. Und auch die europäischen Nachbarn beißen sich an der Frage der Flüchtlingspolitik fest. Unter anderem lehnen Ungarn, Österreich und Polen die EU-Flüchtlingspolitik und eine Quotenregelung ab. Mehr noch werden Grenzen verstärkt und Mauern aufgebaut. Es zeigt sich in Europa, dass wir einen Rückzug der Demokratie erleben. Und das seit mittlerweile 10 bis 12 Jahren, verbunden mit einen Vormarsch autoritär geführter Länder. Dies geht mit einer massiven Bedrohung des Wertekorsetts des Westens einher. Beispielsweise würde Ungarn mit seiner aktuellen Politik heute so nicht mehr in die Europäische Union aufgenommen werden. "Doch darüber wird in Brüssel politisch entschieden und nicht geopolitisch, das ist der Unterschied", so Schmid. Damit wird der von den Gründungsvätern der Europäischen Gemeinschaft propagierte Wunsch nach Einigung und Einheit im wirtschaftlichen und später auch politischen Bereich in Europa ad absurdum geführt. Ein gefährliches Spiel, das den europäischen Gemeinschaftsgedanken zu zerbrechen droht. Denn ein einheitliches Europa ist mehr als Bürokratie, Eurokrise und Flüchtlingsströme. Es ist vor allem Frieden in einem Großteil Europas der 70 Jahre währt. Es ist der Wille zur Völkerverständigung und der politische, soziale und kulturelle Austausch. Werte, die viele Teile dieser Welt nie erlebt haben. Jüngstes Beispiel dieser neuen Separation ist der Brexit. Mit dem Ja zum Austritt der Briten hatte niemand gerechnet. Und doch bedeutet der eingeschlagene Weg Wasser auf die Windmühlen der konservativen und nationalistischen Kräfte in Europa, die ebenfalls von mehr Eigenständigkeit und weniger Gemeinschaftssinn träumen. Die Präsidentschaftswahlen in Frankreich werfen ihre Schatten voraus.
Entschieden ist dagegen die US-Präsidentschaftswahl. Mit dem Ausgang pro Donald Trump hatte ebenfalls kaum jemand gerechnet. Und auch aus Washington kommen schärfere Töne gegen Migranten und Freihandelsbestrebungen. Mauern, mehr Eigenständigkeit, "USA zuerst" heißt die Devise aus dem Trump-Lager. Die angekündigte Annährung an Russland und Wladimir Putin brüskiert so manchen NATO-Partner. Die Wortwahl des neu gewählten US-Präsidenten ist rau und gezielt provokativ. Was an scharfen Ankündigungen politisch umgesetzt werden kann, wird die nahe Zukunft zeigen. Dabei ist eines jetzt schon klar. Sowohl in den USA als auch Europa stehen die Zeichen eher auf Spaltung, denn auf Einigung. Gewinnen Hardliner, Scharfmacher und nationalistische Töne die Oberhand. Verlierer sind all diejenigen, die an Verständigung, den Ausgleich und die sachliche Diskussion in einer lebendigen Demokratie glauben. Denn sie werden überschrien. Und damit wären wir wieder beim Einstieg des Beitrags und dem toten Reh, an dem die Hunde rütteln und zerren. In diesem Fall ist das Reh die Demokratie und die Hunde stehen bei Fuß. Mehr noch haben sie sich in ihrem Opfer verbissen: den freiheitlichen Werten. Es droht der Fall der Demokratie. Auch das war 2016.
2017 wird ein Jahr der Unsicherheit
Die aktuelle wirtschaftliche Lage in Deutschland ist gut – die Aussichten für nächstes Jahr aber sind trüber. Das ist die Kernaussage des Jahresgutachten 2016/17 der führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute. Zu diesen Unsicherheitsfaktoren zählen vor allem geopolitische Risiken, die politische Unsicherheit in Europa (siehe Brexit) sowie den USA (Trump), potenzielle Turbulenzen auf den internationalen Finanzmärkten und der schwierige Transformationsprozess in China. Sorge bereiten den Wissenschaftlern zudem die Lage in Italien und die Situation in kleineren, von Krisen betroffenen Mitgliedstaaten wie Griechenland und Portugal. Die USA und die EU, einst Bastionen der politischen Stabilität, "exportieren" politische Risiken in den Rest der Welt. Die Helaba-Chefvolkswirtin Gertrud R. Traud hatte daher ihren Konjunktur- und Kapitalmarktausblick mit "Die Welt fährt Autoscooter" überschrieben. Weitere politische Unsicherheiten, etwa in der Türkei, untergraben die positive globale Wirtschaftsentwicklung.
Es stellt sich die Frage, wie Risikomanager und Unternehmenslenker professionell und seriös mit einer Chancen- und Risikolandkarte voller Unsicherheit umgehen sollten.
Lernen aus der Zukunft
Ein Blick in den Rückspiegel oder das Einsortieren von Risiken in einer Risikomatrix (oder haben Sie geopolitische Risiken schon einmal hinsichtlich ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit bewertet?) wird hier nur sehr begrenzt weiterhelfen. Auch ein Internes Kontrollsystem (IKS) schafft hier keine zusätzliche Erkenntnis. Klassische "Risikobuchhaltung" macht blind für die wesentlichen Risiken und Chancen!
Um den Blick aus der Vergangenheit in die Zukunft zu schwenken, hilft beispielsweise das Denken in (zukünftigen) Szenarien. Doch was versteht man genau unter einem Szenario? Etymologisch lässt sich der Begriff der Szenarien bis auf Platon zurückverfolgen. Der antike griechische Philosoph und Schüler des Sokrates stellte die Zukunft in Bildern dar. Das Höhlengleichnis ist eines der bekanntesten Gleichnisse der antiken Philosophie. Hierbei handelt es sich um ein Gleichnis zur Veranschaulichung seiner Ideenlehre.
Das Höhlengleichnis stellt dabei den Aufstieg des Menschen durch vier Stufen der Erkenntnis sinnbildlich dar. Die Menschen leben in einer Höhle an Ketten gefesselt und blicken auf eine Felswand, während hinter ihnen ein Feuer flackert. Auf der Felswand sehen sie nur die Schatten von Gegenständen, die hinter ihnen vorübergetragen werden und welche vom Schein des Feuers als Schattenbilder an die Wand vor ihnen projiziert werden. Die Menschen halten einzig diese Schattenbilder für die Wirklichkeit (das Seiende) und befinden sich damit auf der ersten Stufe der Erkenntnis: der bloß sinnlichen Wahrnehmung.
Einem Gefangenen werden die Fesseln abgenommen. Er wird umgewendet (das ist der wesentliche Akt der philosophischen Erziehung) und sieht nun die irdische Realität. Nach einiger Zeit hält er diese zwar für wahr, möchte aber, da das Feuer ihn blendet, um wieder zurück ins bequeme Dunkel zu kommen. Zum weiteren Aufstieg muss man ihn also zwingen, da der Mensch sich nur widerwillig Lernprozessen unterwirft. In der oberen Welt wiederholt sich auf einer höheren Erkenntnisstufe das Erlebnis, das er in der Höhle gehabt hatte: Er erkennt anfangs nur die Abbilder der Wirklichkeit. Der Mensch kehrt in die Höhle zurück, um seine ehemaligen Mitgefangenen zu befreien. Diese wehren sich jedoch, weil sie die Bequemlichkeit der Höhle der Erkenntnis vorziehen.
Wir müssen also unsere bequeme Höhle verlassen und sollten uns mit potenziellen Zukunftspfaden beschäftigen. Der US-amerikanische Stratege, Kybernetiker und Futurologe hatte auf diesen professionellen Umgang mit Unsicherheit bereits vor Jahrzehnten hingewiesen: Aus der Vergangenheit kann jeder lernen. Heute kommt es darauf an, aus der Zukunft zu lernen!
Wenn wir diese Erkenntnis nicht beherzigen und unsere Höhle nicht verlassen, um die Zukunft aktiv zu gestalten, ebnen wir die Bühne für Verschwörungstheoretiker, Nationalisten und Chauvinisten. Von Psychologen wissen wir, dass Unsicherheit uns anfällig macht für Verschwörungstheorien. Und eine zunehmende Unsicherheit führt dazu, dass der Sog des Nationalismus stärker wird. Eine bittere Erkenntnis der vergangenen Jahrhunderte. Und auch hier verbeißen sich die Akteure in ihre "Opfer".