Der Chefvolkswirt der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), Claudio Borio, hat die Zentralbanken davor gewarnt, ihre Fähigkeit zur Inflationssteuerung zu überschätzen. Bei einer Veranstaltung der britischen Denkfabrik Omfif stellte Borio laut vorab verbreitetem Redetext grundlegende Annahmen in Frage, auf denen die aktuelle Geldpolitik beruht - darunter die Existenz eines gleichgewichtigen Neutralzinses. Er riet den Zentralbanken, in ihrer Geldpolitik stattdessen stärker Finanzzyklen zu beachten.
"Es lohnt sich, über die Nützlichkeit des Konzepts eines neutralen Zinsen für die Geldpolitik nachzudenken", sagte Borio demnach. Der neutrale Zins sei jener Zins, der sich einstelle, wenn in einer Volkswirtschaft Vollbeschäftigung herrsche. Für Preisstabilität soll die Zentralbank sorgen, denn "Inflation ist immer und überall ein monetäres Phänomen", wie der Ökonom Milton Friedmann einst postulierte. Andererseits hat die Geldpolitik laut dem herrschenden Konsens keinen langfristigen Einfluss auf "reale" wirtschaftliche Größen.
Borio stellt jedoch beide Annahmen in Frage. "Wir sollten die Fähigkeit der Zentralbank zur Feinabstimmung von Inflationsraten nicht überschätzen", sagte Borio. Zwar könne eine Zentralbank wohl die Inflation beeinflussen, doch spielten reale Faktoren womöglich eine größere Rolle als bisher angenommen.
Zentralbanken könnten am Rückgang der Realzinsen Anteil haben
Zudem hätten die Zentralbanken an dem seit den 1980er Jahren anhaltenden Rückgang der Realzinsen selbst großen Anteil, obwohl die Theorie das für unmöglich erkläre. Der Grund liegt laut Borio darin, dass die Zentralbanken versuchen, die Inflation zu kontrollieren, um sicherzustellen, dass sich die Marktzinsen der Annahme entsprechend langfristig in Richtung des neutralen Zinses bewegen, der seinerseits aber eine rein hypothetische Größe sei.
Wenn nun aber, wie derzeit zu beobachten, die Inflation trotz Vollbeschäftigung nicht anziehe, sei nach diesem Denkmodel der Schluss unausweichlich, dass der neutrale Zins (an dem die Zentralbank ihre Geldpolitik ausrichtet) gesunken sei. Das sei auch der Grund, warum so oft die Annahmen über zwei andere nicht messbare Größen, die neutrale Arbeitslosenquote (NAIRU) und die Potenzialrate, revidiert würden.
Laut Borio könnte der lang anhaltende Rückgang der Realzinsen auf drei geldpolitische Ursachen zurückgehen: Erstens auf die Zinsnormalisierung nach der Politik der Inflationsbekämpfung durch den damaligen Fed-Chef Paul Volcker; zweitens auf die asymmetrischen Reaktionen der Zentralbanken auf Finanzmarktbooms und -zusammenbrüche in einem wegen der Globalisierung disinflationären Umfeld; drittens auf den Versuch der Zentralbanken, die nunmehr unerwünscht niedrige Inflation nach dem Ende der Finanzkrise anzutreiben.
Zentralbanken gegen Auswirkungen von Globalisierung und Technologie machtlos
Der BIZ-Chefvolkswirt verwies in diesem Zusammenhang auf die inflationssenkenden Auswirkungen der Globalisierung und prognostizierte ebenso große Auswirkungen für die gerade laufende technologische Innovation. Beide entzögen sich dem Einfluss einer regionalen Geldpolitik und seien positiv zu bewertende angebotsseitige Entwicklungen. Sie wären eine Erklärung dafür, dass die Inflation derzeit nicht zu den Auslastungsraten von Arbeitsmärkten passe. "Das legt zumindest den Gedanken nahe, den Zeithorizont, innerhalb dessen die erwünschte Inflationsrate erreicht werden soll, etwas weiter zu fassen", sagte er.
Den unter dieser Annahme entstehenden geldpolitischen Spielraum sollten die Zentralbanken dazu nutzen, in ihrer Geldpolitik den sogenannten Finanzzyklus stärker zu berücksichtigen, als das langfristige Auf und Ab an den Finanzmärkten. "Die hohen und langfristige Kosten von Finanzmarkkteinbrüchen und Bankenkrisen sind gut dokumentiert", sagte Borio. Die Geldpolitik würde auf diese Weise eine langfristigere Orientierung gewinnen, und in der längeren Frist seien Preis- und Finanzstabilität zwei Seiten der gleichen Medaille, argumentierte er.