Das erste Halbjahr 2022 wird einen Platz in den Geschichtsbüchern als rabenschwarzes Finanzmarkt-Semester finden. Anleger sahen sich mit Verlusten von wahrhaft historischem Ausmaß konfrontiert. Der schlussendliche Ausstieg der Notenbanken aus ihrer jahrelangen, unnötigen Überversorgung der Märkte mit Liquidität zeigt sich als erwartungsgemäß schmerzhaft.
Finanzmarktstress der Vergangenheit war zumeist aus einer singulären Quelle gespeist und damit oft in nur einer Risikoart präsent. Im Zuge des "Taper Tantrums" 2013 etwa gerieten Zinsanlagen unter Druck, während sich Aktien und andere risikonahe Vermögenswerte resilient zeigten. Umgekehrt führten systemische Risiken 2008 zu einem Ausverkauf in allen mit Kreditrisiko behafteten Anlagesegmenten und zu massiven Kursverlusten bei Aktien. Anleihen sehr hoher Bonität erwiesen sich hingegen als wirksamer Portfoliohedge.
Abb. 01: Marktüberblick: Entwicklung verschiedener Assetklassen
[Hinweis: Zahlenangaben beziehen sich auf die Vergangenheit. Frühere Wertentwicklungen sind kein verlässlicher Indikator für künftige Wertentwicklungen. Anleihen auf Basis Bloomberg Indizes; Aktien auf Basis MSCI Indizes; Rohstoffe auf Basis Bloomberg Indizes; Die historische Wertentwicklung wurde in Euro berechnet. Quelle: Bloomberg; Stand: 30.06.2022]
Im aktuellen Umfeld platzt die "Alles-Blase". Ihr Entstehen war überhaupt nur durch die unverantwortliche Notenbankpolitik der letzten 15 Jahre möglich. Die früher oder später notwendigerweise aus dieser Geldpolitik resultierende Inflation ist "erfolgreich herbeigeführt" und zwingt die Zentralbanken nun zum Ausstieg aus ihrer ultraexpansiven Politik.
Das Platzen der "Alles-Blase" geht einher mit scharfen Kursrückgängen in allen Anlageklassen, deren Preise über die letzten Jahre von der Überliquidität und dem so erzwungenen Nachfrageüberhang nach Vermögenswerten profitiert hatten. So reihen sich die in Mischportfolien aufgelaufenen Preisbewegungen in die schwersten Verlustjahre seit Datenaufzeichnung ein. Nahezu alle großen Aktienindizes befinden sich gemäß Formaldefinition (Kursrückgang von 20% oder mehr vom letzten Hoch) im Bärenmarkt. Die Aussicht auf schwächere Unternehmensgewinne infolge der im weiteren Jahresverlauf zu erwartenden Konjunkturabkühlung erklärt dabei einen Teil der Verluste, ganz wesentlich wirken aber auch rückläufige Bewertungen auf Aktien und andere risikooffensive Anlagesegmente ein. Verlangten Anleger im Umfeld üppiger Liquidität geringe oder kaum noch erkennbare Risikoprämien, kehrt nun Ernüchterung ein. Viele Anlageklassen waren 2020 und 2021 mit Bewertungen gepreist, die nur mit dauerhaft bei Null oder darunter verankerten Zinsen erklärbar gewesen wären. Scott Kleinman, Chef des Private Equity Hauses Apollo, sprach 2021 treffend von einem "kollektiven Wahnzustand" bei Unternehmensbewertungen.
Der anstehende Liquiditätsentzug der Notenbanken und höhere Zinsen führen zu gleichzeitig auftretendem Stress in nahezu alle Anlageklassen. Galt bislang 1994 als Annus horribilis der Neuzeit, als Schreckensjahr für Anleger in gemischten Anlagestrategien, stellt die erste Jahreshälfte 2022 selbst die damals äußerst widrigen Bedingungen in den Schatten. Ein jeweils hälftig aus Bundesanleihen (RexP -2,75%) und europäischen Aktien (Stoxx Europe 600 -11,47%) konstruiertes Portfolio verlor zwischen Januar und Juni 1994 lediglich 7,11%, während sich der Portfolioverlust einer solchen Mischstrategie in der ersten Jahreshälfte 2022 (RexP -7,36%, Stoxx Europe 600 -14,82%) auf 11,02% summiert.
Abb. 02: Bundrendite
[Quelle: Bloomberg, Zeitraum: 5 Jahre, Stand: 30.06.2022]
Diese Betrachtung spiegelt aber noch nicht einmal das ganze Ausmaß der verlustträchtigen Rentenanlage im Jahr 2022 wider, weil Bundesanleihen als bonitätsrisikofreie Anlagen "lediglich" dem Druck steigender Zinsen ausgesetzt waren, nicht aber zusätzlich noch unter Ausweitungen der Spreadkomponente litten. Dieser parallel auftretende Druck wirkte aber auf alle großen Rentenindizes, die entweder auch Bonitätsrisiko aus Staatspapieren mitführen und/oder anteilig auch Gewichtungen in Unternehmensanleihen aufweisen. Im Ergebnis stehen bei vielen Euro-Rentenindizes für die erste Jahreshälfte 2022 Verluste von 13% oder mehr zu Buche. Der sehr breite Bloomberg Barclays EUR Aggregate Renten-Index verlor im bisherigen Jahresverlauf 13,2%, weil die Endfälligkeitsrendite von 0,20% zu Jahresbeginn auf in der Juni-Spitze über 2,50% anstieg. Ein solch scharfer Zins- und Spreadanstieg in solch kurzer Zeit ist historisch nahezu beispiellos und erfüllt sämtliche Merkmale eines Stresstestszenarios, welches bislang nur in Modell- und Theoriewelten simuliert, dessen tatsächliches Eintreten aber statistisch als höchst unwahrscheinlich klassifiziert wurde.
"Only when the tide goes out do you discover who's been swimming naked."
Warren Buffet
Wie in jeder historischen Marktphase, in der die Flut der Ebbe weicht, zeigt sich nach Warren Buffets zeitloser Feststellung, in welchen Anlagesegmenten "keine Badehose" getragen wurde. In der Rückabwicklung spekulativer Exzesse erleiden Geschäftsmodelle, Narrative und glücksspielähnliche Anlagen ohne jede Substanz überproportionale Verluste. Ähnlich wie im Platzen der Internet-Blase im Jahr 2000 Anlagen vollständig wertlos wurden, sind heute, gerade bei vielen in den Jahren 2020-21 populären "Ideen", gewisse Parallelen zu erkennen. Speziell "Anleger" in Krypto-"währungen" erfahren derzeit schmerzlich, dass auf deren vermeintliche Knappheit kein Verlass ist und die Korrelation dieser Instrumente sehr viel näher an hochspekulativen Technologie- und Konsumsaktien ankoppelt, als etwa – wie von vielen erhofft - an Gold.
Das Edelmetall selbst enttäuschte in den zurückliegenden Monaten in Anbetracht der hohen Inflationsraten zwar sicher einige Investoren, doch zeigte sich Gold im Vergleich zu anderen Anlageklassen relativ betrachtet doch als wertstabil (in etwa +/- 0 in US-Dollar, ca. +7% in Euro seit Jahresbeginn). Gerade unter Berücksichtigung Gold-negativer Faktoren, wie steigender Zinsen und eines starken US-Dollars, ist die robuste Performance umso bemerkenswerter.
Abb. 03: Netflix
[Quelle: Bloomberg, Zeitraum: 5 Jahre, Stand: 30.06.2022]
An den Aktienmärkten erweist sich 2022 der Verzicht auf sämtliche "Schönwetter"-Strategien der Vorjahre als wertvoll. All jene Investmentansätze, wie etwa Growth, Momentum, Technologie, "FAANG" (Facebook, Apple, Amazon, Netflix, Google), bei denen verknappt die Aussage galt, dass Anleger ihre fundamentalen Hausaufgaben nicht mehr machen müssen, sondern quasi blind nachkaufen können, stehen nun unter besonderem Druck in der Rückabwicklung der aufgebauten Bewertungsexzesse. Bei einigen der in den letzten Jahren populären Technologieaktien genügten im Rahmen der Quartalsberichte geringfügigste Verfehlungen der Gewinnerwartungen, um Tagesverluste von 30-40% auszulösen. Die Kursentwicklungen zeigen: Viele dieser Konsensus-Trades verfügen über keinerlei Sicherheitsmarge, auf die ein Value Investor stets bestehen würde.
Wie wir bereits im letzten Jahr gewarnt hatten, ist in jeder monetären und spekulativen Überfütterung damit zu rechnen, dass der notwendigerweise jedem rauschhaften Fest folgende Kater umso heftiger ausfällt, je ausschweifender die zuvor konsumierten Überrenditen waren.
Die im Rausch des billigen Geldes aufgebauten Überrenditen stellten aus der Zukunft geborgte Erträge dar. Der künstlich niedrige Zins und die üppige Notenbankliquidität ermöglichten Anlegern, ihnen erst sehr viel später zustehende Cashflows in der Gegenwart zu verkonsumieren. Wer mit Glück auf dem Hoch Kasse machte, konnte einen tatsächlichen Zuwachs an Prosperität verbuchen. Gesamtvolkswirtschaftlich fällt die Bilanz dieser Taschenspieltricks (von der US-Notenbank als "Vermögenseffekt" impliziert gesteuerte Policy-Ebene) aber negativ aus und führt zu keiner Mehrung der allgemeinen Wohlfahrt.
Folgerichtig geht die Rückführung der geldpolitischen Exzesse mit deutlichen Bewertungskorrekturen in nahezu allen Aktiensegmenten einher. Zusätzlich tritt selbst bei vielen als vermeintlich robust vermuteten Geschäftsmodellen lehrbuchartig der Effekt ein, der im Inflationsumfeld nicht ungewöhnlich ist: Die Kosten der Unternehmen steigen schneller und stärker, als Preissteigerungen an Endkunden weitergereicht werden können. Unzureichende Preissetzungsmacht belastet die Gewinnmargen und lässt die Aktienkurse unter zusätzlichen Druck geraten. Exemplarisch war diese Beobachtung im abgelaufenen Quartal bei vielen Einzelhändlern in den USA, wie etwa Walmart, zu sehen. Branchenkonkurrent Target verbuchte nach Bekanntgabe der Quartalszahlen im Mai mit einem Tagesverlust von -25% den größten Kursverlust seit 1987 am "Schwarzen Montag".
Ihre Nichteignung als pauschalen Inflationsschutz dokumentierten im ersten Halbjahr zudem viele REITs, also Immobiliengesellschaften. Weil auch deren Kosten oft schneller steigen als Mieten angehoben werden können und die Finanzierung durch steigende Zinsen belastet wird, verzeichneten viele Immobilienaktien stärkere Kursrückgänge als der Gesamtmarkt.
Das einzige Aktiensegment, welches mit deutlichen Kursgewinnen aufwarten konnte, war der Bereich Öl & Gas. Den Energiewerten spielten die deutlich gestiegenen Rohstoffpreise in die Karten. Die Branche hatte zudem als eine von nur sehr wenigen in den Vorjahren keine hohen Überbewertungen aufgebaut. Es gilt wie so oft: Totgesagte leben länger. Die spektakuläre Wiederbelebung der Aktienkurse vieler Energiewerte zeigt zudem, dass das in den letzten Jahren populär gewordene Narrativ der sogenannten "Stranded Assets" (also vermeintlich wertloser Reserven der Öl- und Gasunternehmen, weil diese Vorkommen ungenutzt im Boden bleiben) eine genauso unzutreffende Vorhersage war, wie die These vom "Peak Oil" um das Jahr 2008.
Die heftigen Zinsbewegungen führten in den USA zweimal zur Inversion der Zinskurve. Diese ungewöhnliche Situation, wenn kurzfristige Zinsen (2-jährige Staatsanleihen) oberhalb der langfristigen (10-jährigen) Laufzeiten liegen, war in der Vergangenheit der singulär verlässlichste Vorbote einer Rezession oder deutlichen konjunkturellen Abkühlung. Merklich reduzierte Gewinnprognosen vieler Unternehmen, zunehmend schwache Frühindikatoren, der zuletzt kräftig gefallene Kupferpreis und auf ein Allzeittief gesunkenes Verbrauchervertrauen in den USA lassen es ebenfalls als schlüssig erscheinen, dass im zweiten Halbjahr ein rezessives Umfeld droht.
Die Risikoaufschläge in Unternehmensanleihen und High Yield Bonds bestätigen diese Erwartungen. Die stark angestiegenen Spreads preisen für den Jahresverlauf deutlich höhere Risiken für Rückstufungen, Bonitätsverschlechterungen und Insolvenzen ein. Sicherlich antizipiert der Markt gerade bei Ausfallquoten auch Nachholeffekte: Aus marktwirtschaftlichen Entwicklungen heraus nötige Insolvenzen wurden nach Corona systematisch durch staatliche Rettungs-, Hilfs- und Ausgleichspakete verschleppt; diese Risiken könnten nun aber zeitverzögert stärker sichtbar werden.
Im Crash-Modus verblieb der Euro. Die Gemeinschaftswährung wertete gegenüber fast allen anderen Währungen deutlich ab. Zum Schweizer Franken ist die Parität erreicht, zum US-Dollar fehlen dafür nur noch fünf Cent. Der Euro erodiert vor allem aufgrund der bisherigen Weigerung der EZB, die Inflationsrealitäten anzuerkennen und dem dadurch immer größer werdenden Zinsnachteil gegenüber Währungsräumen, in denen längst konsequente Zinsanhebungen vorgenommen worden sind.
Abb. 04: Marktüberblick Währungen
[Quelle: Bloomberg; auf Basis von MSCI Indizes; in EUR; Hinweis; Zahlenangaben beziehen sich auf die Vergangenheit. Frühere Wertentwicklungen sind kein verlässlicher Indikator für künftige Wertentwicklungen. Stand: 30.06.2022]
Viele Schwellenländer hatten beispielsweise schon 2020/2021 begonnen, dem aufkommenden Inflationsdruck entgegenzusteuern. So hob etwa die brasilianische Notenbank den Leitzins Selic von 2% im März 2021 bis auf aktuell 13,25% an. Die brasilianische Landeswährung Real konnte im gleichen Zeitraum ca. 21% gegenüber dem Euro aufwerten. Einige der früher mit Inflationspolitik assoziierten Regionen erarbeiten sich mit ihrer stabilitätsorientierten Geldpolitik derzeit einen Glaubwürdigkeitsbonus gegenüber westlichen Notenbanken und Währungen.
Die Inflation setzt sich fest
Die aktuell stark erhöhten Inflationsraten lasten auf realen Erträgen und Risikoprämien, die am Kapitalmarkt vereinnahmt werden können. Anleger kommen im Eigeninteresse daher nicht umhin, sich eingehender mit der "Anatomie" der aktuell herrschenden Inflation zu befassen.
Beliebt und verbreitet scheint derzeit der Reflex politisch Verantwortlicher, die fast schon galoppierende Inflation nicht-kontrollierbaren, äußeren Einflüssen zuzuschreiben. Mal sind es Rohstoffpreise, mal Covid-Nachwirkungen, mal Mineralölkonzerne, insbesondere aber der Ukraine-Krieg, die sich jeweils als dankbare Schuldige für die Preissteigerungen anbieten. In den USA setzt sich in der Rhetorik der Biden-Administration die Sprachregelung vom "Putin Price Hike" durch. All diese Erklärungsmuster erwecken den Eindruck, die hohen Teuerungsraten wären eine Form der höheren Gewalt, quasi ein unglücklich über uns gekommenes Naturereignis. Krieg, Energiepreise und Angebotsengpässe verstärken tatsächlich viele Preiseffekte, ursächlich sind sie aber nicht. Sie kommen gelegen, um von politischen Fehlern und Verantwortlichkeiten abzulenken, helfen Anlegern aber nicht weiter, um zu taxieren, welches künftige Ausmaß der Inflation wahrscheinlich ist.
Zunächst ist es für Investoren hilfreich festzustellen, dass Inflation überhaupt nur unter bestimmten Bedingungen auftreten kann: Großbritannien etwa hatte in 200 Jahren des Goldstandards überhaupt keine Inflationserfahrung. Geldsysteme, die in einer natürlichen Knappheit der Geldmenge ruhen, zeichnen sich durch Preisstabilität aus. Die notwendige Vorbedingung für Hochinflation ist ein Überangebot an Geld. Seit der endgültigen Auflösung der Goldbindung sämtlicher Hauptwährungen im Jahr 1971 wurde, was eigentlich Ausnahme- und Notsituation sein sollte, zum Normal- und Dauerzustand: Die permanente Schaffung von ungedecktem Papiergeld aus dem "Nichts", deutlich oberhalb von Produktivitätszuwächsen der Volkswirtschaft. Dieser wachsende Geldmengenüberhang ermöglichte ausgabefreudigen Politikern über fünf Jahrzehnte hinweg schuldenfinanzierte Ausweitungen der Staatsquote. Dieser Mechanismus der de facto monetären Staatsfinanzierung stößt nun sowohl von Seite der aufgelaufenen staatlichen Schuldenquoten, als auch von resultierenden Inflationsraten an seine Grenzen.
Die heute zu Tage tretende Inflationsmisere ist in ihrem Ursprung genauso monetär, wie es sämtliche Hochinflationsphasen der Geschichte im In- und Ausland gewesen sind. Nie trat eine Hoch- oder gar Hyperinflation unter konstanter Geldmenge (bzw. Geldqualität; Stichwort Münzverschlechterung der Frühzeit und des Mittelalters) ein. Die dramatische Ausweitung der Geldmengen nach dem Covid-Ausbruch 2020 war eine notwendige Zutat zum Inflationsrezept. Die zweite erforderliche Zutat war die unnötige fiskalische Überstimulierung der Jahre 2020 und 2021, welche die gigantischen Geldmengen nachfragewirksam werden ließen. Verstärkt wurde der Inflationsdruck zusätzlich durch Angebotsengpässe, die allerdings überwiegend auch kein schicksalhaftes Naturereignis darstellen, sondern (neben fahrlässigen Lieferketten-Abhängigkeiten) aus bewussten Entscheidungen im Kontext der Lockdown-Politik herrühren.
Monetär wurde Inflation aber bereits vor der Pandemie vorbereit. Die viel zu laxe und expansive Geldpolitik schuf in den Jahren zwischen Eurokrise und 2020 lange zu lockere Finanzierungsbedingungen, spekulative Exzesse und legte die Saat, aus der schlussendlich die Inflation keimen konnte. Zunächst ging die Saat scheinbar nicht auf, weil die Geldmengen im Finanzsystem verharrten und nicht realwirtschaftlich nachgefragt wurden. Es fehlte also der nötige "Niederschlag" in Form einer höheren Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Das Gelddrucken blieb so zunächst scheinbar folgenlos, weil es keine direkte Güterpreis- und Verbraucherinflation hervorbrachte, sich wohl aber in einer weniger sichtbaren "Schatteninflation" in Form von steigenden Vermögenspreisen manifestierte. Diese zunächst scheinbar angenehmen Wirkungen der Inflationierungspolitik mögen dazu ermutigtet haben, mehr davon zu betreiben.
Doch auch die Effekte dieser Vermögenspreisinflation kommen nun, mit Zeitverzögerung, realwirtschaftlich in den Verbraucherpreisen an, zum Beispiel über den Kanal stark steigender Mieten als Folge exorbitant gestiegener Immobilienpreise, eine direkte Folge der Notenbankpolitik.
Einen Beleg für den monetären Ursprung der hohen Inflation im Euroraum liefert als Gegenprobe bzw. Kontrollgruppe die Schweiz. Im Vergleich zur stark beschleunigten Euro-Inflation von 8,2% erreichte die eidgenössische Teuerungsrate mit letztem Datenpunkt gerade einmal 2,9%. Während die der Verbraucherpreisinflation vorlaufenden Produzentenpreise auch in der Schweiz inzwischen mit im Jahresvergleich erhöhten 6,9% steigen, sind sie weit entfernt von den rasanten Steigerungen der deutschen Erzeugerpreise bei 33,6% (!). Die Schweiz verfügt als Land ohne eigene Rohstoffvorkommen über ähnliche Importabhängigkeiten bei Energie und Rohstoffen wie die EU-Nachbarländer auch. Die einzig relevante Unterscheidung ist der höhere Selbstversorgungsgrad mit Elektrizität, bedingt durch heimische Wasserkraft. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) hat aber nach 2020 die Geldmengen deutlich weniger stark heraufgefahren als die EZB, zudem profitiert das Land mit dem Schweizer Franken von einer Hartwährung, die Effekte importierter Inflation bremst. Umgekehrt geraten Kaufkraft und Außenwert des Euros immer stärker unter Druck.
Ohne Frage ist es für Anleger am Kapitalmarkt in der Bemessung ihrer Inflationserwartungen relevant, welche Entwicklung die Rohstoffpreise in den kommenden Monaten aufweisen werden. Gerade dem Ölpreis, aber auch Agrarrohstoffen, denen Lebensmittelpreise nachgelagert sind, kommen aufgrund der Methodik und Konstruktion westlicher Warenkörbe zur Messung der Verbraucherpreise wesentliche Bedeutung als Inputdaten zu.
Doch die für Sparer und Anleger im Vergleich zu Verbraucherpreisen relevantere Inflationsrate ist der ökonomische Kaufkraftverlust, der durch die Verwässerung der Geldmenge hervorgerufen wird. Seit Euroeinführung im Jahr 1999 ist das Geldmengenaggregat M2 der EZB im Schnitt um ca. 6% p.a. angewachsen, deutlich oberhalb also des von Eurostat ausgewiesenen HICP-Indikators von etwas mehr als 2% p.a.. Zu erwarten wäre über lange Zeiträume, dass die Preisentwicklung realer Sachwerte die Ausweitung des Geldangebots reflektiert, sodass Preise für Immobilien, Aktien, Grundstücke oder land- und forstwirtschaftliche Nutzflächen im Schnitt in dem Maß aufwerten, wie das Geld, in dem sie gemessen werden, verwässert bzw. entwertet.
Investmentimplikation: Um den realen Kapitalerhalt nicht nur formal, sondern auch ökonomisch zu ermöglichen, gilt für ein Anlageportfolio der Anspruch, mindestens jene Werterhaltgrenze zu übertreffen, die im langjährigen Mittel der Geldmengenausweitung entspricht.
Die am Kapitalmarkt verlässlichste verfügbare Schätzung über künftige Geldentwertung stellt zwar auch auf die Verbraucherpreisinflation ab, liefert aber dennoch wertvolle direktionale Anhaltspunkte für die Richtung der künftigen Inflation. Die Rede ist von den marktbasierten Inflationserwartungen, die sich entweder auf Swap-Basis beobachten lassen oder als Renditedifferential laufzeitgleicher nominaler und inflationsindexierter Anleihen. Die 5Y5Y-EUR-Inflationsswaps sind zuletzt trotz weiter steigender Inflationsraten und Zinsen sogar leicht zurückgekommen. In der Spitze rechneten die Marktteilnehmer für die Euroinflation Anfang Mai noch mit durchschnittlichen Teuerungsraten von knapp 2,50%, zuletzt fiel dieser Wert aber auf 2,15% zurück. Gegenüber den aktuell sehr hohen Inflationswerten von über 8% rechnen die Anleger also mehrheitlich mit einem deutlichen Rückgang des Preisdrucks.
Für einen solchen Rückgang sprechen kurzfristig der vermutlich eintretende konjunkturelle Abschwung oder gar eine Rezession, wodurch das generelle Preisniveau sinkt und besonders der Preisdruck aus Rohstoffen häufig abgemildert wird. Industriemetalle und Holzpreise sind zuletzt bereits deutlich zurückgekommen. Die Energiepreise sind diesmal mit höheren Unsicherheiten behaftet. Auch 2008 wurde das Hoch im Ölpreis erst erreicht, als sich die US-Wirtschaft bereits sechs Monate in der Rezession befand. Im aktuellen Umfeld halten Angebotsengpässe und der Ukraine-Konflikt Öl- und Gaspreise vermutlich strukturell höher und bieten wenig Entlastung.
Doch hat die Inflation auch auf sich selbst straffende Effekte: Ein hoher Anteil an Gütern des Grundbedarfs im Verbraucherpreisindex, den Haushalte kaum selbst kontrollieren können, wie Nahrungsmittel, Energie, Heizen und Tanken, steigt derzeit schneller als der Index selbst und führt zu weniger frei verfügbarem Einkommen für diskretionären Konsum. Eine resultierende konjunkturelle Bremswirkung ist beinahe garantiert, selbst bei höheren Lohnabschlüssen, die in Europa – anders als in den USA – zumeist real negativ bleiben.
Mittelfristig stehen strukturell preistreibende Effekte, wie die Rückabwicklung der Globalisierung und resultierendes "Onshoring", die "grüne Inflation" oder möglicherweise dauerhaft erhöhte Rohstoffpreise weiterhin strukturell disinflationären Einflüssen gegenüber, zu denen sich global hohe Schuldenlasten, Demographie oder Digitalisierung und Automatisierung rechnen lassen. Seriöse Prognosen darüber, welche Effekte dabei Netto-Überhand erlangen, sind kaum möglich.
Investmentimplikation: Mit inzwischen anspruchsvollen Basiseffekten spricht einiges für eine zwischenzeitliche Beruhigung der Inflation. Nicht unterschätzt werden sollten aber die hartnäckigen Preiseffekte der Deglobalisierung. Mit ihr einher geht unerfreulicherweise ein Trend zu weniger internationaler Kooperationsbereitschaft, weniger Freihandel, mehr preistreibenden Zöllen, Einfuhrbeschränkungen sowie zunehmend auch Exportverboten z.B. bei Getreide (Indien, Lateinamerika) und Dünger.
Aufgrund der zentralen Rolle, die den Notenbanken bei Entstehen und Bekämpfen der Inflation zufällt, kommen Anleger des Weiteren nicht umhin, eine Erwartung an den künftig wahrscheinlichen Policy-Rahmen der Geldpolitik zu formulieren.
Historischer "Best-Case" nach 1971 ist sicherlich die US-Notenbank unter Paul Volcker, den man von Seiten der Politik in seiner entschlossenen Bekämpfung der außer Kontrolle geratenen Inflation gewähren ließ. Seine Rosskur hatte Erfolg, dafür waren aber Zinsen im zweitstelligen Bereich und vor allem lange deutlich oberhalb der Inflation nötig.
Abb. 05: Die Inflation ist da und sie ist kein Naturereignis
[Quelle: Bloomberg, Stand: 30.06.2022]
Wenn die US-Notenbank Fed heute als vergleichsweise "entschlossen" wahrgenommen und umschrieben wird, ist dies bei Inflationsraten von 8,6% weniger Verdienst einer konsequenten Inflationsbekämpfung, sondern primär Kontrast zu weit weniger handlungsfreudigen Notenbanken, allen voran der EZB. Zwar hat die Fed den Leitzins inzwischen bis auf 1,75% angehoben und dürfte den Markterwartungen nach bis Jahresende weitere Schritte bis auf 3,50% vorgenommen haben, doch gilt verkürzt: viel zu spät und viel zu wenig. Zum Vergleich: Als die Inflation in den USA 1981 zum letzten Mal über 8% stand, hatte die Zentralbank den Zins unter Paul Volcker bei 15% verankert. Eine ernstgemeinte Inflationsbekämpfung würde für einen nennenswerten Zeitraum Zinssätze oberhalb der Teuerung erfordern. Bei Inflationsraten von über 8% entwerten Sparguthaben in gerade einmal 9 Jahren um die Hälfte. Gleichermaßen entwerten auch Staatschulden real.
Abb. 06: Hohe Inflationsraten entwerten die globalen Schuldenberge real
[Quelle: www.statista.com, Stand: 4. Quartal 2021]
Ein für Investoren möglicherweise hilfreiches Instrument in der Beurteilung der Anreiz- und Interessenslage unterschiedlicher Notenbanken in ihrer Funktion, Inflation wahlweise herbeizuführen, laufen zu lassen oder zu bekämpfen ist demnach auch der Grad der öffentlichen Verschuldung im jeweiligen Währungsraum. Auffällig ist etwa die vergleichsweise niedrige Inflation in vielen gering verschuldeten asiatischen Volkswirtschaften oder der Schweiz. Umgekehrt geht eine hohe öffentliche Schuldenlast häufig einher mit politisch nicht unwillkommenen, höheren Inflationsraten.
Im globalen Vergleich der Staatsschulden stechen Japan, die USA und Europa besonders unrühmlich heraus. Während Japan mit fast ausschließlich inländisch gehaltener Verschuldung immer weiter "Zeit kaufen" konnte und die Vereinigten Staaten im Genuss des Dollar-Privilegs als Weltreservewährung lange Zeit robust über die Runden kamen, ist die Eurozone aufgrund ihrer Konstruktionsfehler und Ungeeignetheit als gemeinsamer Währungsraum (dafür nötige Vorbedingungen sind u.a. hohe Kapital- und Arbeitskräftemobilität, hohe Finanz-, Fiskal- und Wirtschaftsintegration) per Definition fragiler.
Die hohe Verschuldung in vielen EU-Staaten zu adressieren, würde politisch schmerzliche Maßnahmen erfordern: Ausgaben- und Budgetkürzungen, Steuererhöhungen, Strukturreformen, Verzicht auf Begehrlichkeiten neuer Ausgabenprogramme, Rückkehr zu solider Haushaltsführung. Sehr viel weniger unangenehm ist es, den Job via finanzieller Repression jene Institution erledigen zu lassen, in der nicht um Wiederwahlen gebangt werden muss. Die EZB hat sich über die letzten Jahre immer stärker und bereitwilliger zum Ausputzer für die Euro-Staaten einspannen lassen, die (noch) nicht jene Disziplin und jenen Willen zu tiefgreifenden Reformen aufbringen, die zum Beispiel viele Schwellenländer in Folge ihrer Krisen der 1980er oder 90er leisten mussten und die für Südeuropa spätestens mit den Erkenntnissen der Eurokrise überfällig und nötig gewesen wären. Geschäftsmodell und entsprechend ihrer Währungstradition gelebte Praxis der südlichen Mitgliedsstaaten war es vor Euroeinführung stets, über Inflation und Währungsabwertung wettbewerbsfähig zu bleiben. Diese südeuropäische Währungsmentalität dominiert heute die Mehrheiten im EZB-Rat, sodass davon auszugehen ist, dass viele Staaten weiterhin an erhöhter Inflation interessiert sind, damit finanzielle Repression und negative Realzinsen weiter auf die Staatsschulden einwirken und diese real entwertet werden können.
"Wir kennen aus Jahrhunderten die Beweise unzähliger Volkswirtschaften, vom alten Rom bis zum heutigen Simbabwe, dass die Nutzung der Druckerpresse zur Begleichung von Rechnungen zu (…) Inflation führt, die (…) viel schlimmer ist, als der fiskalische Schmerz, den diese Länder zu vermeiden hofften."
Richard W. Fisher, ehemaliger Vorsitzender der Federal Reserve Bank of Dallas
Die fortgesetzte finanzielle Repression kann in Europa als politisch gewollt angesehen werden, weil die Bereitschaft zu Alternativen (zu deren denkbaren Varianten auch mögliche Austritte, Schuldenschnitte, Parallelwährungen oder Zahlungsausfälle zählen) praktisch nicht vorstellbar ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass die EZB erhöhte Inflation weiter dulden wird ohne ihr angemessen entgegenzutreten, ist entsprechend hoch.
In diesem Kontext versteht sich auch der auf "Zeitspiel" angelegte Fahrplan der EZB. Für Juli wurde nun ein später, erster Zinsschritt von 0,25% in Aussicht gestellt, dem vermutlich 0,50% im September und weitere, der Höhe nach noch unklare Anhebungen im Oktober und Dezember folgen dürften.
Die Straffungsmaßnahmen und das beabsichtigte Ende der Ankaufprogramme ändern aber dennoch nichts an den Tatsachen, dass:
- Der Einlagenzins auch im Juli bei Inflationsraten von 8% weiterhin negativ sein wird - Während selbst die Schweizer Nationalbank (bei sehr viel geringeren Inflationsraten) inzwischen eine erste Zinsanhebung um +0,50% vorgenommen hat, verharrt der Einlagenzins der EZB zur Stunde noch immer bei -0,50%.
- Die Realzinsen noch lange Zeit stark negativ sein werden
- Sparer und Anleger weiterhin ungesunden Dosen finanzieller Repression (Inflationsraten deutlich oberhalb der Anlagezinsen) ausgesetzt sein werden
Auch für Europa gilt: Als in den frühen 1980er Jahren zum letzten Mal diese Rekordwerte der Inflation erreicht wurden, war der Leitzins (zumindest in Deutschland) bei 7,50%, nicht bei -0,50%!
Im Grunde ist es auch fast unerheblich, ob der Leitzins der EZB demnächst bei 0,75% oder 1,00% stehen wird. Die aktuell realistischen Projektionen für EZB-Zinserhöhungen sind im aktuellen Inflationsumfeld allenfalls ein Tropfen auf den glühenden Lavastrom. Zinserhöhungen und Reduzierung der Ankaufprogramme kommen nicht nur viel zu spät, sondern sind auch im Ausmaß unzureichend, um die Inflation wirksam einzudämmen.
Eine ernsthafte und glaubhafte Inflationsbekämpfung würde ein sehr viel entschlosseneres Vorgehen erfordern, auch die Bereitschaft zu positiven Realzinsen und damit Zinssätzen oberhalb der Inflation. Eine solche Entschlossenheit könnte die Notenbank z.B. mit außerplanmäßigen Zinsschritten demonstrieren, die im Falle von Zinssenkungen in der Vergangenheit auch immer wieder zum Einsatz kamen. Mit solchen Maßnahmen ließen sich die verlorene Zeit - die Zeit der Normalisierung wäre spätestens 2021 gewesen - und Glaubwürdigkeit zumindest in Teilen zurückgewinnen.
EZB – Der historische 15. Juni 2022
Eine solche Notfallsitzung hatte die EZB nun tatsächlich hektisch für den 15. Juni 2022 einberufen. Zweck der ungewöhnlichen Sondersitzung war jedoch nicht etwa eine überraschende Zinsanhebung, sondern vielmehr der Versuch, die zaghafte Wiederbelebung von Marktpreisen im Keim zu ersticken.
Abb. 07: Spread 10-jähriger Staatsanleihen: Italien gegenüber Deutschland (5 Jahre)
[Quelle: Bloomberg, Zeitraum: 5 Jahre, Stand: 30.06.2022]
Im Zuge der Zinsanhebungserwartungen der Märkte und des Auslaufens der EZB-Stützungsmaßnahmen für südeuropäische Staatsanleihen, war nämlich auch in den zuvor mit Ankaufprogrammen betäubten Risikoaufschlägen italienischer Staatspapiere folgerichtig wieder ein Eigenleben zu beobachten. Die Rendite 10-jähriger italienischer Staatsanleihen war auf über 4% angestiegen.
Dieses Eigenleben sorgt bei der EZB für Nervosität und darf offenkundig nicht zugelassen werden. Dem unerwünschten Marktsignal muss aus Sicht der Notenbank entgegengewirkt werden. Die EZB räumt genau das in ihrer Kommunikation inzwischen sogar völlig freimütig ein. Sie erklärt es zu ihrer Aufgabe, der "Fragmentierung" der Zinssätze entgegenzuwirken. Die Sondersitzung hatte zum Zweck, den Märkten zu signalisieren, dass nach den unerwünschten Ausweitungen der Risikoaufschläge auf italienische Staatspapiere nun beschleunigt an einem Tool zur Eindämmung dieser Spreads, bzw. "Fragmentierung" gearbeitet würde.
Die Fragmentierung von Marktpreisen in Abhängigkeit zugrunde liegender Fundamentaldaten ist (zumindest in einer Marktwirtschaft) aber völlig normal und liegt insbesondere dann in der Natur der Sache, wenn man sich entscheidet, eine Währungsunion aus sehr heterogenen Mitgliedern, mit sehr unterschiedlichen Bonitäts- und Wirtschaftsprofilen zu unterhalten. Zinsunterschiede zwischen Italien mit 150% Verschuldung (in etwa der Stand an Staatsschulden, den Griechenland nach Restrukturierung aufwies; heute bei über 180%) und der Slowakei (63% Schulden/BIP) oder den Niederlanden (52% Schulden/BIP) sind genauso legitim und wertvoll als Marktpreissignal, wie es unterschiedliche Zinssätze für private Schuldner in Abhängigkeit ihres Bonitätsprofils sind. Die dauerhafte Außerkraftsetzung von Marktpreisen führt immer zu Fehlentwicklungen, deren Kosten schlussendlich meist höher sind als sie bei direkter Adressierung des Problems gewesen wären.
Nun steht zu befürchten, dass die Ankaufprogramme der EZB wieder beginnen, bevor sie – wie eigentlich in Aussicht gestellt – richtig geendet haben. Die "Fragmentierungsbekämpfung" ist in den Verträgen aber nicht als Rolle und Aufgabe der EZB genannt. Einzige Aufgabe der EZB ist die Sicherung der Geldwert-, also Preisstabilität. Die Selbstermächtigung der Notenbank zu anderen, als den ihr aufgetragenen Zielen ist eine Anmaßung, die umso verzweifelter verfolgt wird, je stärker sie in Konflikt mit den Realitäten gerät. EZB Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel (die noch im November 2021 die Inflation in der Eurozone als "zu niedrig" klassifiziert hatte und erklärte, die Inflation würde 2022 in Richtung des Inflationsziels von zwei Prozent zurückgehen) äußerte dazu nun, das Engagement für den Euro an sich sei das Werkzeug der Notenbank gegen die Fragmentierung und dieses Engagement kenne "keine Grenzen".
Diese Maßlosigkeit muss auf Anleger und Sparer in der Eurozone bedrohlich wirken. Denn sie offenbart die Grundhaltung und Priorität der Notenbank, nämlich im Bedarfsfall weitere Verzweiflungstaten zugunsten der südeuropäischen Schuldenstaaten zu lancieren, die per Definition im Zielkonflikt mit der eigentlichen Aufgabe, der Gewährung von Preisstabilität, stehen müssen.
So ist der 15. Juni 2022 nach dem 26. Juli 2012 (dem Tag von Mario Draghis "Whatever it takes" Rede in London) eurogeldpolitisch ein zweiter, unrühmlicher Tag, der historische Bedeutung erlangt. Der 15. Juni geht als der Tag in die Geschichte ein, an dem die EZB endgültig eingestanden hat, was implizit schon immer vermutet werden konnte: Ihr faktischer bzw. selbstgewählter Auftrag weicht vom vorgegebenen Auftrag ab. Wenn es noch eines Nachweises dafür bedurft hätte, dass die EZB wohl vorrangig den Erhalt der Eurozone und die Schuldentragfähigkeit der südeuropäischen Länder steuert, so ist dieser erbracht. Die eigentliche Aufgabe der EZB, die Inflationsbekämpfung, wird nur insoweit verfolgt, wie sie nicht in Konflikt mit diesem höherstehenden "Fragmentierungsziel" gerät.
Investmentimplikationen: Dass die Inflationsbekämpfung offenkundig ein nachgeordnetes Ziel der EZB ist, erhöht für Euro-basierte Anleger die Attraktivität von Vermögenswerten mit "Inflations-Beta". Zu inflationsreagiblen Assets zählen Gold, ausgewählte Aktien mit Sachwertcharakter und hoher Preissetzungsmacht, Grundbesitz abhängig von Jurisdiktion und jeweiligen Rendite-Eigenschaften oder Sammlerobjekte. Im Rentenbereich sind inflationsindexierte Anleihen nominalen Bonds vorzuziehen. Sparguthaben sind ungemindert der realen Entwertung ausgesetzt, ihr Anteil am Gesamtvermögen sollte gegenüber Normalbedingungen vermutlich weiter reduziert bleiben. Auf den Euro wirkt weiter starker Abwertungsdruck, solange die EZB den Zins unterhalb des eigentlich angemessenen Niveaus belässt und damit die Zinsdifferentiale gegenüber anderen Währungsräumen weiter werden. Portfolio-Beimischungen von Fremdwährungen, die in Regionen mit stärkerer Orientierung an Geldwertstabilität verankert sind, können sinnvolle Selbstverteidigungsinstrumente gegen die EZB-Politik sein. Ob und in welchem Umfang sich Anleger Kreditrisiken und möglichen Redenominierungsrisiken aus südeuropäischen Vermögenswerten aussetzen wollen, hängt davon ab, ob sie die erzielbare Risikoprämie für ausreichend erachten.
Gerade letztgenannter Aspekt will reiflich abgewogen sein. Die Historie zeigt: Egal wie unvorstellbar Ereignisse und Disruptionen im Voraus schienen und egal, wie viel politisches Kapital in eine Idee investiert war, die normative Kraft des Faktischen führte doch häufig zu unerwarteten Entwicklungen, die das Außerkraftsetzen ökonomischer Gesetzmäßigkeiten doch irgendwann nicht mehr funktionieren ließen. Der österreichische Ökonom Eugen von Böhm-Bawerk beschrieb bereits zu Beginn des frühen 20. Jahrhunderts genau diese Unmöglichkeit der dauerhaften Betäubung von Marktsignalen.
Die Aufrechterhaltung der derzeit praktizierten Euro-Architektur kann schwerlich um jeden Preis ein Selbstzweck sein. Und selbst wenn dieses Ziel als hohes Gut mehrheitlich anerkannt und dauerhaft befürwortet wird, scheint der Preis einer offenkundig notwendigen Dauer-Rettung des Euros doch hoch.
Zu den Kosten zählen der Verlust der Stabilitätskultur und die direkten und indirekten Schäden aus zu niedrigen Zinsen und Marktverzerrungen. Doch auch die Marktwirtschaft und ihre ordnende Funktion bleiben als Nebenwirkung der EZB-Eurodauerrettung weiter und stärker auf der Strecke. Abgesehen davon, dass es nicht die Aufgabe der EZB ist, Spreads für Italien oder Frankreich zu steuern, stellt sich die Frage: Woher soll die EZB – gerade im Vergleich zum Markt – wissen, wo der "richtige" Spread für Italien, Spanien oder Frankreich liegt?
Die disziplinierende Rolle erhöhter Risikoaufschläge kann ihre Wirkung nicht entfalten, wenn sie mit einer Preisobergrenze versehen sind. Wenig verantwortliche oder gar unsolide Haushaltspolitik ist die Folge. Damit werden die Ursachen, die Eurokrise und Schieflage von Länderetats erst verursachten, zum zementierten Zustand, der dauerhafte Transferzahlungen an nicht wettbewerbsfähige Staaten erfordert.
Investmentimplikationen: Wo Risiken nicht marktgerecht vergütet sind, weil Angebot und Nachfrage außer Kraft gesetzt werden und planwirtschaftlich Markteingriffe die Preise "besser wissen", sollten sich Investoren grundsätzlich in Zurückhaltung üben. Viele Anleger haben Spielraum zu prüfen, ob – wo Anlagerichtlinien und Regularien es zulassen – ein Portfolio besser mit strukturell geringeren Anteilen an europäischen Renten auskommen kann, als es in der Vergangenheit vielfach üblich war. Die generelle Erosion der Glaubwürdigkeit der Notenbanken unterstreicht die Vorteile von Gold im Portfolio.
Viele große Notenbanken haben sich mit den Fehlern ihrer vergangenen Politik ohnehin in eine Situation nur noch begrenzter Handlungsfähigkeit gebracht. Versucht die EZB nun, mit den Spreads eine Größe zu steuern, die sie dauerhaft nicht steuern kann, werden Verzerrungen und wachsende Schäden aus der Fehlallokation von Kapital immer größer. Möglicherweise besteht das Paradox, dass die EZB mit ihrem Antifragmentierungsprogramm genau das beschleunigt, was sie eigentlich vermeiden will: Unter ungünstigen Umständen werden die resultierenden fiskalischen Fliehkräfte letztendlich so hoch, dass eine Gesamtabwägung von Kosten und Nutzen die Euro-Beteiligung für einzelne (gerade neuere) Mitglieder (z.B. in Ost- und Mitteleuropa) nicht mehr lukrativ erscheinen lässt.
Die Missachtung ihres eigentlichen Auftrags und unbefugte Selbstermächtigung der EZB zu Ersatzzielen würde normalerweise eine kritische Prüfung des Mandats durch den Auftraggeber nahelegen. Weil damit aus nachvollziehbaren politischen Interessenslagen aber nicht zu rechnen ist, steht stattdessen zu befürchten, dass an die Stelle der nicht stattfinden Inflationseinhegung der Notenbank zunehmender Fiskal- und Umverteilungsaktionismus ("Klimageld", "Mobilitätsgeld", "Übergewinnsteuer", usw.) der Staaten tritt.
Für viele Staaten wäre die Eurokrise vermutlich der letztmögliche Zeitpunkt gewesen, zu überdenken, welche Überbeanspruchung von Aufgaben geordnet zurückgebaut und in die Hände privater Initiative zurückgegeben werden kann. Die seither noch weiter gestiegenen Ausgaben und Schulden gefährden mit immer mehr und neuen Regulierungen stattdessen aber das Wirtschafts- und Wohlstandsmodell in Europa immer grundsätzlicher.
Sanktionen – spielentscheidende Eigentore
Das Geschäftsmodell vieler (nämlich industriell geprägter) Länder in Europa gerät derzeit aber ganz generell in Bedrängnis. Für viele Unternehmen, nicht nur in energieintensiven Branchen (wie etwa Glas, Keramik, Stahl, Chemie, Werkstofffertigung), sondern ganz generell im produzierenden Gewerbe, waren die Bedingungen bereits vor dem Ukraine-Krieg schwierig. Die Fragezeichen an Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit von Energie und Rohstoffen als Grundvoraussetzungen für moderne, arbeitsteilige Fertigung und Produktion bringen nun ganze Branchen in potenziell existenzbedrohende Gefährdungen. Die Preisexplosion bei Erdgas, Rationierungsaufrufe und die Schieflage des Versorgers Uniper sind nur erste Vorboten einer sich vermutlich in der zweiten Jahreshälfte noch dramatisch verschärfenden Energiekrise. Im Ernstfall droht der Verlust von Wettbewerbsfähigkeit und die Deindustrialisierung ganzer Regionen und Wirtschaftszweige.
Was im Tennis-Fachjargon der "unforced error", im Fußball das Eigentor, findet aktuell eine nicht unähnliche Entsprechung im Aufsatz der Sanktionen, die in ihrer Absicht gegen Russland gerichtet, in ihrer tatsächlichen Wirkung aber wohl stärker zum Nachteil Europas sind.
Die ersten Eigentore waren auf dem Energie-Spielfeld bereits vor der Ukraine-Krise geschossen. Die konfuse, stärker von Wunschvorstellungen und Ideologie als von marktwirtschaftlichen Elementen geprägte Energiewende hatte speziell in Deutschland bereits eine politisch gewollte Verknappung und Verteuerung von Energie herbeigeführt. Global organisierten Klima- und ESG-Pläne einen Kapitalentzug für Unternehmen im Bereich Öl und Gas, der zusammen mit schärferer Regulierung in jahrelangen Unterinvestitionen und Angebotsverknappung resultierte. Die in Deutschland übereilt betriebene Abkehr von heimischen Ressourcen führte überhaupt erst in die wenig verantwortungsvolle Abhängigkeit von russischem Gas.
Bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine waren eine Reihe nicht beabsichtigter und wohl nicht zu Ende gedachter Folgewirkungen der Verteuerung und Demontage traditioneller Energieträger zu verzeichnen, beispielhaft genannt seien die exorbitante Verteuerung von Dünger und Nahrungsmitteln (Beheizung von Gewächshäusern) in Folge steigender Gaspreise. Auch die Kosten industrieller Fertigung waren bereits 2021 energiepreisbedingt stark im Steigen begriffen und wirkten direkt auf die Inflationsraten.
Mit den nun verhängten Russland-Sanktionen ist eine Energiekrise in Europa praktisch garantiert. Sie trifft Deutschland mit dem hohen Anteil energieintensiver Fertigungsprozesse im Maschinenbau, in Automobil-, Chemie-, Metall- und Elektroindustrie besonders hart und überproportional stärker als etwa Frankreich, mit im Vergleich verlässlicherer und kostengünstigerer Stromproduktion. Die Energiekrise wird zum Standortfaktor. Niedrige Energiekosten wirken künftig als Wettbewerbsfaktor stärker zugunsten Nordamerikas und ausgewählter Schwellenländer. Absehbarer Verlierer ist Europa. Hier droht ohne schnelle, wirksame und langfristig tragfähige Lösungen eine Abwanderung bestimmter Industrien, weil eine global wettbewerbsfähige Produktion schlicht nicht mehr möglich sein wird.
Gut gemeint ist nicht automatisch gut gemacht, diese zeitlose Wahrheit lässt sich derzeit vielfach beobachten: An den Sanktionen im landwirtschaftlichen Bereich, an Sanktionen gegen russische und weißrussische Düngemittelhersteller oder am Ölembargo der Europäischen Union. Der Verzicht der westlichen Staaten auf russisches Öl erreicht weder eine Schwächung der russischen Militärkapazitäten in der Ukraine, noch ein Überdenken der Aggressionen allgemein. Die Angebotsverknappung befeuert aber den Ölpreis. Russland freut sich in der Folge über höhere Exporterlöse, denn willige Abnehmer findet es zwar zu Discounts, aber zu dennoch höheren Preisen als vor dem Einmarsch, etwa in China und Indien. Die Ausfuhren nach Indien sind dabei besonders deutlich gestiegen. Übereinstimmenden Berichten nach gibt es dafür auch einen einfachen Grund: Rohöl der russischen Ural-Sorte kann mit entsprechenden Abschlägen günstig erworben werden, wird in Indien raffiniert und danach mit hohen Aufschlägen nach Europa weiterverkauft. Russisches Öl landet also auf Umwegen doch in europäischen Tanks, nur eben zu deutlich höheren Preisen. Es verwundert nicht, wenn trotz "Tankrabatt" und anderer Maßnahmen die Preise an den Zapfsäulen wieder steigen. Höhere Ölpreise sind gut für Russland, während sie die Abnehmer in Europa belasten.
Vom Ölembargo besonders getroffen sein wird die ostdeutsche Raffinerie Schwedt. Folge des Produktionsausfalls könnten Versorgungsengpässe für Industrie und Verbraucher in den ostdeutschen Bundesländern sein. Generell ist das wegfallende russische Ölangebot derzeit nicht leicht zu substituieren. Zwar könnte eine globale Konjunkturabkühlung in der zweiten Jahreshälfte die Nachfrage bremsen, doch operieren die OPEC-Staaten an der Kapazitätsgrenze. In Kolumbien, wo Kohle und Öl fast die Hälfte der Exporterlöse ausmachen, will der neugewählte Präsident Gustavo Petro neue Explorationsvorhaben vollständig stoppen. So können plötzlich bislang sanktionierte Staaten mit reichen Ölvorkommen (wie Venezuela) auf eine wieder nachsichtigere Behandlung hoffen und in den USA drängt die Biden-Administration die Ölindustrie zur jahrelang politisch nicht gewünschter Angebotsausweitung.
Noch viel gravierender als bei Rohöl ist die Abhängigkeit gegenüber Russland bei Erdgas. Die völlig realitätsfremde Forderung nach einem europäischen Gasembargo bietet sich bei realistischer Betrachtung nicht einmal als theoretische Option. Russland hat seine relativ gesehen bessere Verhandlungsposition bei Gaslieferungen erkannt und die Zuleitung via Nord Stream 1 im Juni um 60% gedrosselt. Ob der Gasfluss nach einer im Juli geplanten "Wartung" überhaupt wieder aufgenommen wird, scheint derzeit unsicher.
Möglicher Ersatz für wegfallendes russisches Gas wurde zunächst hektisch in den Golfstaaten zu organisieren versucht. Doch LNG aus Katar ist zum einen sehr viel teurer, andererseits besteht das Emirat auf langfristige Verträge. Auch die Scheichs am Golf sehen sich in einer äußerst komfortablen Verhandlungsposition: Neben den Europäern buhlt auch China um Gas aus Katar. An wen man liefert, die Europäer, die ihre Vertragsverhandlungen mit unbequemen Fragen nach Menschenrechten verbinden, oder die Chinesen, welche ihre Interessen in der Region seit Jahrzehnten auf unterschiedlichen Ebenen verankert haben, können sich Kataris frei wählen.
Die Verwundbarkeit bei den dringend benötigten LNG-Lieferungen nach Europa zeigt sich auch nach dem Brand in einem der wichtigsten LNG-Exportterminals in Texas. Die Anlage wird monatelang ausfallen und die Transportkapazitäten nach Europa spürbar beeinträchtigen. Grundsätzlich ist LNG deutlich teurer als russisches Gas und auch nicht in den eigentlich erforderlichen Mengen verfügbar. Die Umweltbelastung durch die nötigen Transportmaßnahmen und -vehikel wird derzeit überraschenderweise fast gar nicht thematisiert. Wie belastbar die Zusage der USA generell ist, Europa mit genügend LNG als Ausgleich für den Wegfall russischer Gaslieferungen zu versorgen, wird sich vermutlich erst zeigen, wenn das Versprechen durch Knappheiten und Preissteigerungen auf den nordamerikanischen Energiemärkten selbst auf die Probe gestellt wird. Zu befürchten ist, dass die Interessen des Heimatmarktes dann Vorrang vor außenpolitischen Erwägungen genießen und die USA und Kanada im Bedarfsfall eher protektionistisch handeln und die Produktion im eigenen Land halten. Europa geriete in die Position des Bittstellers und in die Situation einer möglichen Versorgungskrise.
Die USA selbst blicken sehr viel entspannter auf die globale Rohstoffsituation. Sie sind als Selbstversorger weitgehend autark bei Öl und Gas. Das erhöht die Standortattraktivität der Nordamerikaner im globalen Wettbewerb. Die wirtschaftlichen Risiken der Sanktionen tragen die Europäer. Die Sanktionen und wirtschaftliche Isolation Russlands zahlen somit möglicherweise auf die politischen Interessen der Vereinigten Staaten ein, sind aber gewiss nicht im wirtschaftlichen Eigeninteresse Europas.
Für Europa ist der beschleunigte Ausbau erneuerbarer Energien mit den bereits vor dem Ukraine-Krieg getroffenen Entscheidungen wohl tatsächlich vollständig alternativlos. Damit dabei die richtigen politischen und handwerklichen Akzente gesetzt werden, ist mehr Realismus, sind weniger Illusionen und Wunschdenken als in der Vergangenheit nötig. Grundlastfähigkeit werden die in Deutschland verfügbaren Energiequellen Wind und Solar allein nie erreichen können. Der Netzaus- und umbau wird teuer und will intelligent und weitsichtig geplant sein. Für die Elektrifizierung notwendigen Metalle führen Deutschland und Europa in eine noch extremere Abhängigkeit als sie bei fossilen Energieträgern beklagt wird: China verfügt bei den unverzichtbaren Metallen und seltenen Erden über ein Angebotsmonopol. Gallium, Graphit und Wismut sind nahezu ausschließlich aus chinesischer Herkunft beziehbar, Kobalt nur aus chinesisch kontrollierter Einflusssphäre (DR Kongo). Auch in höheren Ausbaustufen der Wertschöpfungskette, wie Solarzellen und Technik, bestehen große Abhängigkeiten von chinesischen Produzenten (inklusive eklatanter Menschenrechts- und Umweltproblematiken in den Produktionsprozessen).
Wurde bereits in der Coronakrise erkannt, wie wenig nachhaltig Abhängigkeiten von genau einem Zulieferer bei vielen Lieferketten sind, steht in der Energiefrage deutlich mehr auf dem Spiel. Die Frage der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa hängt an bezahlbarer und verfügbarer Energie, der dafür beschleunigt notwendige Ausbau erneuerbarer Energien aber direkt von Wohl und Wehe künftiger politischer Beziehungen mit China ab.
So eröffnet sich zumindest die Chance, dass die aktuelle Krise und Anerkennung der Realitäten als heilsamer Schock ein Umdenken bewirkt und Europa zu mehr Pragmatismus zwingt. Die irrige Vorstellung, man könne auf Öl und Gas verzichten, ist inzwischen widerlegt. Die Bereitschaft in Deutschland, wegfallende Gaskapazitäten zeitweise noch mit Kohle aufzufangen, zeugt von einer Rückkehr zu praktischer Vernunft. Schon im ersten Quartal 2022 war Kohle nach Angaben des Statistische Bundesamts mit einem Anteil von 31,5% der wichtigste Energieträger in Deutschland. Bei allen bekannten Problemen der Kohleverstromung ist in einer Gesamtbewertung dennoch nicht gänzlich unerheblich, dass so gewonnener Strom aktuell fast 20% billiger in der Erzeugung ist als Gas und damit auch einen Beitrag leisten kann, die von der Inflation strapazierten Budgets der Haushalte zu entlasten. Auch Österreich nimmt ein stillgelegtes Kohlekraftwerk wieder in Betrieb. Über temporäre Maßnahmen hinaus wird Europa, will es Produktionsstandort bleiben, mit einer stärker in der Lebensrealität verankerten Energiepolitik anerkennen müssen, dass der kombinierte Komplettverzicht auf sowohl Kohle, als auch Gas, als auch Atomenergie in einem künftigen, grundlastfähigen Energiemix sachlogisch keine Option sein kann. Mindestens eine der unpopulären Energiequellen wird wohl auch weiterhin einer der Grundpfeiler der Versorgungssicherheit sein müssen.
Für Europa haben aber nicht nur die Eigentore der Ukraine- und Energiekrise das Potential, sich zur Wachstums-, Wirtschafts- und Wohlstandskrise auszuwachsen. Auch die vom Bürokratiezentralismus ausgehende und vielfach beschleunigte Regulierungswut ist ein entscheidender Wettbewerbsnachteil für europäische Unternehmen. Eine zusätzliche Belastung wird dabei die (zertifizierungspflichtige!) Nachhaltigkeits-Berichtspflicht, die auch kleineren und mittleren, nicht börsennotierten Unternehmen, bereits ab 250 Mitarbeiter und 40 Mio. Euro Umsatz, ab 2024 auferlegt wird. Sie bedeutet für Mittelständler Aufwand und Kosten, denen kein messbarer Nutzen gegenübersteht und der für globale Wettbewerber nicht anfällt. Die Vorlage für ein mögliches weiteres Eigentor lieferte im Juni das EU-Parlament mit der Forderung nach einem Komplettverbot von Verbrennungsmotoren bis 2035. Mikro- und makroökonomische Fehlsteuerungen waren schon immer ein Hauptgrund für Verschiebungen in der relativen Wettbewerbsfähigkeit von Branchen und Regionen. Der Niedergang und heute desolate Zustand des einst stolzen Automobilstandorts Detroit kann für Europa als ein warnendes Beispiel dienen.
"Was ist das Schwerste von allem? Was dir das Leichteste dünket:
Mit den Augen zu sehn, was vor den Augen dir lieget"
Johann Wolfgang von Goethe
Die Regulierungseigentore und Verantwortungslosigkeit in der Energiepolitik der Vergangenheit haben bereits deutliche Spuren im "Spielstand" hinterlassen. Europäische Vermögenswerte, gerade auch deutsche Aktien, handeln inzwischen mit einem sehr deutlichen Abschlag gegenüber ihrer eigenen Historie und insbesondere gegenüber jeweiligen Konkurrenten aus den USA oder der Schweiz. Dieser Bewertungsabschlag ist Ausdruck einer tiefen Skepsis der Marktteilnehmer, ob Europa nach einer Serie von Eigentoren noch die Offensivkraft aufbringen kann, das Spiel noch zu drehen. Sollte die Demontage der Leistungsfähigkeit von Unternehmen in den industriell geprägten kern- und mitteleuropäischen Staaten weiter fortschreiten, geriete damit in der Konsequenz auch eine Belastungsgrenze dieser Länder für dauerhafte Transferzahlungen in weniger wettbewerbsfähige Euro-Staaten in Sicht. Die Tragfähigkeit der aktuellen Euro-Architektur und Dauerrettungserfordernisse würde zusätzlich verkompliziert.
Investmentimplikation: Europa ist der klare Verlierer in einem Spiel mit unglücklichen Gegen-, aber auch einer Serie von Eigentoren. Die Aussichten für künftige Gewinnentwicklungen europäischer Unternehmen sind mit hohen Unsicherheiten und Risiken versehen. Ein Bewertungsabschlag gegenüber energieunabhängigeren und regulierungspragmatischeren Standorten ist gerechtfertigt und könnte sich gar noch vertiefen. Einige Branchen könnten sich in ihrer grundsätzlichen Wettbewerbsfähigkeit und Fortexistenz gefährdet sehen. Anleger, die darauf vertrauen, dass die aktuelle Krise zu einem Umdenken auf europäischer Policy-Ebene führt, könnten die im historischen Vergleich inzwischen günstigen Bewertungen in einigen EU-Aktiensegmenten zur Eröffnung erster Positionen nutzen, wenn sie zum Schluss gelangen, dass die ermäßigten Kurse für die dennoch verbleibenden Risiken hinreichend kompensieren. Weniger optimistische Anleger überdenken die Gewichtungen von europäischen Vermögenswerten am Gesamtvermögen.
Direkte oder indirekte Energiekomponenten (z.B. Währungen ölexportierender Länder) können für Anleger sinnvoll sein, deren Anlageregularien entsprechende Instrumente zulassen. Hohe und weiter steigende Energiekosten sind gerade im Aktienbereich eine klare Belastung für Margen und Gewinne der allermeisten Portfolioholdings. Unternehmen, die von steigenden Öl- und Gaspreisen profitieren, wirken auf ein Portfolio hingegen antifragil und sind ein wirkungsstarker Hedge gegen weiter steigende Energiekosten für nahezu jedes konventionelle Portfolio, in dem fast alle Nichtenergie-Positionen unter entsprechenden Inputkosten leiden.
Der beschleunigte und notwendige Ausbau erneuerbarer Energien eröffnet gewiss selektive Anlagechancen. Innovative Unternehmen, deren Produkte echte Lösungskompetenzen bieten, verdienen eine Prämie. Doch Vorsicht ist geboten: Gerade im Segment der Solar-, Wind- und Wasserstoffunternehmen und Zulieferer haben die spekulativen Übertreibungen der vergangenen Jahre undifferenziert auch vielen Unternehmen eine Bewertungsprämie zugestanden, deren künftig zu erwartende Cashflows diese nicht rechtfertigen. Es lohnt immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass schon im kalifonischen Goldrausch von 1848 nicht die offensichtlichen Geschäftsmodelle (in diesem Fall die Prospektoren) zu Reichtum kamen, sondern vielmehr verlässlicher und risikoärmer die "Zulieferer", also jene Unternehmer, die den Glücksrittern Schaufeln, Pfannen und Ausrüstung verkauften. Ähnliche Entwicklungen sind heute denkbar: Die immensen Mengen Kupfer, Aluminium, Zink oder Platin, welche für die Energiewende benötigt werden, sprechen stark für Bergbauunternehmen, die über entsprechende Reserven verfügen. Viele dieser Minenbetreiber erfüllen die Merkmale eines klassischen Value-Investments. Sie sind nach jahrelanger Underperformance unterbewertet, unterinvestiert, ungeliebt.
Für Europa wäre der "Onshoring"-Trend, die Rückkehr zu heimischer Produktion, prinzipiell eine große Chance zur Reindustrialisierung. Gelänge eine Lösung der Energiekrise und könnten Verfügbarkeit und Bezahlbarkeit von Energie als gegeben angenommen werden, böten sich speziell für einige Innovationsführer im Bereich der derzeit vielfach günstig bewerteten europäischen Industrieunternehmen sehr chancenreiche Investitionsmöglichkeiten.
Der Euro sieht sich vermutlich anhaltend schwierigen Bedingungen ausgesetzt. Im Portfolio können Währungen aus Regionen Berücksichtigung finden, in denen sich die Standortfaktoren weniger stark verdüstern, bzw. relativ gesehen verbessern und deren Fundamentaldaten sich heute schon robuster präsentieren (z.B. ausgewählte asiatische Staaten). Gold bleibt die antifragile Währung und Kasse-Ersatz ohne Gegenparteirisiko.
Eine weitere und letzte Gefahr für die westliche Welt im Kontext der Sanktionen: Eine teils stark von Zurschaustellung überlegener moralischer "Haltung" und Tugend geprägte Politik läuft Gefahr, die Axt an eine der wesentlichsten Vorbedingungen für den wirtschaftlichen Erfolg der letzten Jahrzehnte zu legen, nämlich der unbedingt garantierten Rechtsstaatlichkeit. Immer dann, wenn in der Historie die Gesinnungspolitik Akzeptanz fand und der Zweck die Mittel rechtfertigte, waren die in der Folge getroffenen Entscheidungen selten freiheits-, friedens- und wohlstandsfördernd.
Die Vielzahl recht willkürlich anmutender Konfiszierungen russischer Vermögen in westlichen Staaten ohne klare Rechtsgrundlage sind ein erster Schritt in Richtung gefährlicher Präzedenzen, auf denen künftig nach Bedarf und Belieben weitere Maßnahmen aufbauen könnten. Deren Signalwirkung ist fatal (die identische Wirkung im Inland hat die Billigung von Straftaten von straßenblockierenden "Aktivisten" durch Politiker in Regierungsverantwortung), weil nicht gleiches Recht für alle gilt, sondern situativ zu- und abgesprochen werden kann. Von erheblicher ökonomischer Tragweite dürfte in der weiteren Folge dabei besonders die Konfiszierung der russischen Fremdwährungsreserven sein.
Mit Auslaufen des Ankaufs von Staatsanleihen durch die Fed und EZB ist die Preisbildung am Rentenmarkt wieder stärker durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Der Finanzierungsbedarf der westlichen Staaten bleibt hoch, die Nachfrage ausländischer Notenbanken nach Dollar- und Europapieren dürfte indes strukturell und dauerhaft niedriger ausfallen, hat sich der Rechtscharakter dieser Anlagen aus Sicht von nichtwestlichen, staatlichen Investoren doch deutlich gewandelt. Für nichtstaatliche Investoren gilt analog, dass Immobilien- oder Kapitalmarktinvestitionen in Europa und Nordamerika nun ein stark erhöhtes politisches Risiko aufweisen.
Investmentimplikation: Der zu erwartende Nachfragerückgang nach westlichen Staatspapieren aus Asien und anderen Entwicklungsregionen könnte anhaltenden Aufwärtsdruck auf die Zinsen in Europa und den USA ausüben und damit die Refinanzierung deutlich verteuern. Gold und asiatische Währungen sind aus Sicht bisheriger nichtwestlicher Käufer von US-Staatsanleihen oder Bundesanleihen vermutlich rechtssicherere Alternativen.
Die Sanktionslogik führt stärker in Sackgassen, als beabsichtigt. Russland scheint bislang weitgehend resilient gegenüber den Sanktionen. Zumindest zeigt sich das russische Agieren in der Ukraine weitgehend unbeeindruckt von den westlichen Maßnahmen. Wenn es die Erwartung des Westens gewesen sein sollte, eine Verhaltensänderung Moskaus zu bewirken, kann dieser Plan als gescheitert gesehen werden. Russland ist in vielen Bereichen autark und hat geringe Abhängigkeiten. Anders der Westen und besonders Europa. Dessen Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten werden derzeit schmerzlich offenbar.
Eine im eigenen Tugendanspruch gefangene Politik tut sich schwer, Kurskorrekturen vorzunehmen. Wie bereits während der Pandemie zu beobachten, werden oft vorschnell und reflexartig Maßnahmen lanciert, die Handlungsfähigkeit demonstrieren sollen, deren Eignung bei objektiver Betrachtung aber zumindest fragwürdig scheint. Ein Soll-Ist Abgleich findet in der Folge nicht statt und die Hürde für eine Rückführung einmal installierter, aber offenkundig ungeeigneter Maßnahmen ist hoch, geht sie doch einher mit dem notwendigen, aber politisch stets schmerzlichen Eingestehen von Fehlern.
So ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass fehlender strategischer Weitblick und verhärtete Positionen zwischen Russland und dem Westen weiterhin hohe direkte und indirekte Kosten verursachen. Die Sanktionen haben einen Beitrag zur möglichen weiteren Eskalation des Konflikts (wie aktuell die Situation um die Kaliningrad-Blockade zeigt) und verändern das geostrategische Gleichgewicht auf mehreren Ebenen. Sie zwingen Russland, sich strategisch nach Asien zu orientieren. Die in unserem letzten Marktbericht diskutierte mögliche panasiatische Blockbildung aus Russland, China, Indien und weiteren Staaten als Gegenentwurf zur westlichen Allianz wird sehr wahrscheinlich mit weitreichenden wirtschaftlichen und geopolitischen Verschiebungen einhergehen.
Abb. 08: Historischer Gegenwind für Mischstrategien
[Hinweis: Zahlenangaben beziehen sich auf die Vergangenheit. Frühere Wertentwicklungen sind kein verlässlicher Indikator für künftige Wertentwicklungen, US-Renten auf Basis Bloomberg US Aggregate Total Return Index; US Aktien auf Basis S&P 500 Index (Total Return); jeweils in USD, Mischportfolio = 70% US-Renten + 30% US Aktien, Quelle: Bloomberg; Zeitraum: 01.01.1977 - 30.06.2022]
Im Umfeld historisch nahezu beispielloser, paralleler Ausverkäufe an Aktien- und Rentenmärkten hatten schwerpunktmäßig aus Aktien und Renten konstruierte Mischstrategien kaum Möglichkeiten, sich den übergeordneten, aus der Allokation bedingten Verlusten zu entziehen. Keine auch noch so aktive, akzentuierte Positionierung innerhalb der beiden Anlageklassen wäre in der Lage gewesen, den heftigen Gegenwind aus Zinsanstieg und Aktienmarktrückgängen auszugleichen.
Wir haben volles Verständnis, dass die gegenüber vielen anderen Mischfondstrategien etwas weniger schlechte Gesamtperformance im ersten Halbjahr 2022 für die allermeisten Anleger in Anbetracht der absoluten Performance sicher ein sehr schwacher Trost ist und nicht wirklich ins Gewicht fällt. Erklärt werden soll sie dennoch: Der vorsorglich schon seit längerer Zeit erhöhte Anteil alternativer Anlagen konnte die Verluste bei Aktien und Renten natürlich nicht ausgleichen, aber zumindest abmildern:
Das Segment der Alternativen Anlagen erreichte im 1. Halbjahr einen Performancebeitrag von +0,33%. Demgegenüber hatte das Aktienportfolio einen Beitrag von -2,51% (ungewichtet -14,63%), das Rentenportfolio gar von -7,87% (ungewichtet -14,16%).
Die heftigen Marktkorrekturen - so bitter sie rückblickend sind – eröffnen nach vorne blickend aber auch Chancen. Der Rückzug der Notenbanken aus den Kapitalmärkten ist grundsätzlich begrüßenswert und ermöglicht eine künftig wieder stärker marktbasierte Preisbildung, die Risiken auch wieder angemessener vergütet. Das aktuelle Marktumfeld bietet – trotz aller neuen Risiken und Unsicherheiten - sicherlich deutlich bessere Anlagebedingungen als über weite Strecken der vergangenen Jahre.
Ob die nötigen Korrekturen bereits abgeschlossen sind, würde eine seriös nicht leistbare Prognose erfordern. Vermutlich werden die Märkte erst dann ein neues, aus Fundamentaldaten heraus begründetes Gleichgewicht finden können, wenn die Notenbanken ein Ende des Straffungskurses signalisieren. Eine Bodenbildung erfordert meist zuvor auch noch einen finalen "wash out", eine Kapitulation der Anleger, die bislang noch nicht stattgefunden hat. Im Verhältnis zu "fairen Bewertungen" sind Märkte in der Vergangenheit über lange Strecken deutlich zu teuer gewesen, in einigen Markphasen aber auch "zu günstig" (besonders in Kombination mit hohen Inflationsraten). Ein Überschießen der Korrektur (also "Unterschießen" der Preise) ist nicht auszuschließen.
Abb. 09: Aktien erzielten gegenüber Trend und "Lehrbuchrendite" hohe Überrenditen
[Hinweis: Zahlenangaben beziehen sich auf die Vergangenheit. Frühere Wertentwicklungen sind kein verlässlicher Indikator für künftige Wertentwicklungen. Quelle: Bloomberg, eigene Berechnung; Zeitraum: 01.01.2004 - 30.06.2022]
Die Marktpreise waren in den letzten Jahren primär der Notenbankliquidität gefolgt, nicht mehr Fundamentaldaten, wie langfristigen Gewinn- und Wachstumstrends. Speziell an den Aktienmärkten wurden so nicht durch realwirtschaftliche Wertschöpfung erklärte Überrenditen erzielt. Deren Rückführung auf den Anlegern "zustehenden" und langfristig "erwartbaren" Trend ist auch deshalb noch nicht abgeschlossen, weil es dauern wird, bis die Exzesse des billigen Geldes verdaut sind. Die Übertreibungen waren speziell nach 2020 sehr weit geworden, gleichwohl hatte die bereits während der Bernanke-Ära viel zu lockere Geldpolitik lange vor der Corona-Pandemie begonnen, die "Alles-Blase" zu nähren.
Der Ausstieg der Notenbanken aus dem Konfetti-Modus der Vorjahre erzwingt die Normalisierung der Bewertungen in allen Anlageklassen. Wir hatten in der Vergangenheit immer wieder dafür sensibilisiert ("7 magere Jahre", "Überfüttert", "Aus der Zukunft geborgte Erträge", "Märkte müssen sich auf ungemütlichere Bedingungen einstellen", usw.), dass die rauschhafte Geldflut zu ungesunden Überrenditen geführt hat, deren irgendwann notwendiger Rückbau nicht ohne schwere Marktverwerfungen möglich sein würde.
Ein guter Teil dieser notwendigen Anpassung liegt nun hinter uns. In vielen Anlagesegmenten bieten sich aus Sicht unseres Portfoliomanagements für Neu- und Wiederanlagen inzwischen wieder sehr viel attraktivere Möglichkeiten als noch zu Jahresbeginn und als über weite Strecken der Vorjahre insgesamt. Mit dem Liquiditätsentzug gehen eine verantwortlichere Kapitalallokation und Ausspülung spekulativer Überbewertungen einher, gleichbedeutend mit einer wohltuenden Reinigung der Risikoprämien und Säuberung zuvor mit "Hot Money" verunreinigter Marktplätze. Ob diese Bereinigung bereits genügt, die erzielbaren Risikoprämien als ausreichend zu bewerten, unterscheidet sich noch stark nach Anlageklassen, Segmenten und Regionen. Speziell in Europa orientieren sich künftige Renditeaussichten nun sehr stark an der Frage, ob der (in der Vergangenheit schon schwache) Wachstumstrend überhaupt gehalten werden kann, oder ob die Zäsur der Zeitenwende und Energiekrise zu irreversiblen Schäden am Geschäftsmodell vieler Länder führt. Schnelles und intelligentes Gegensteuern in der Energiepolitik wäre die obligatorische Notwendigkeit, zumindest die vor 2022 präsente Wertschöpfungsfähigkeit zu halten.
Unter der Hypothese einer Rückkehr zu "Normalbedingungen" (= die Energiekrise kann bewältigt werden; derzeitige marktbasierte Inflationserwartungen sind korrekt, die Inflation bildet sich auf ein Normalmaß zurück) ermöglicht die aktuell erreichte Investmenthygiene in einigen Investmentkategorien erste chancenreiche, ansprechende Anlagemöglichkeiten. Setzt sich hingegen eine hartnäckige Hochinflation fest, wird es schwerfallen, von derzeit möglichen Renditen aus das Kapital real zu erhalten. Historisch war es im Umfeld der Stagflation stets schwierig bis kaum möglich, werterhaltende Anlagestrategien zu entwerfen.
Gegenüber "Normalbedingungen" und einem Umfeld mit besserer Sicht auf Inflation und geopolitische Risken bleiben daher die risikodefensiven Akzente im Portfolio weiter erhöht. Das hohe Übergewicht in eher mit der Aufgabe der Portfoliosicherung betrauten Instrumenten im Feld der Alternativen Anlagen bleibt vorerst weiter bestehen. Insbesondere sehen wir es unverändert als erforderlich an, den Goldanteil im Portfolio gegenüber Normalbedingungen mit zum Quartalende 10,85% (weitere 3,7% in physischem Silber und 0,8% in physischem Platin) taktisch hoch zu halten.
Als äußerst resilient haben sich in der ersten Hälfte die CAT-Bond Strategien im Portfolio gezeigt. Die Prämien in diesem Segment sind zuletzt noch weiter angestiegen und die kurze Zinsbindungsdauer der entsprechenden Anleihen konnte den Gegenwind von der Zinsseite gut abfedern. Der Verlauf der nun bevorstehenden Ereignis-Saison wird die Gesamtjahresbilanz der Anlageklasse wesentlich bestimmen. Erwartungsgemäß stark positive Beiträge konnten im ersten Halbjahr aus Trendfolge- und Volatilitätsstrategien generiert werden.
Das Anleihesegment bleibt weiterhin in einer deutlichen Untergewichtung. Noch immer sind die in Euro erzielbaren Realzinsen auf breiter Front negativ, der Trend ist gegen Renten gerichtet, die Höhe des Zinsniveaus zum Ende des Zinssteigerungszyklus noch nicht austariert. Dennoch haben wir das letzte Quartal für eine leichte Nettoausweitung des Rentenexposures genutzt. Zukäufe haben wir dabei auf gute und sehr gute Bonitäten konzentriert. Neuanlagen sind an den Anleihemärkten inzwischen wieder zu sehr viel vertretbareren Bedingungen und mit besserem Gewissen als in den Vorjahren möglich. Solide Qualitäten in mittleren Laufzeitbereichen ermöglichen erstmals seit langer Zeit wieder Einstandsrenditen deutlich oberhalb der Inflationserwartungen. Zur Erinnerung: Unser Anspruch an festverzinsliche Anlagen ist stets, dass deren Endfälligkeitsrendite oberhalb der Inflationserwartung liegen muss, um den realen Kapitalerhalt überhaupt ermöglichen zu können. Der rasante Zins- und Spreadanstieg führt in zahlreichen Rentensegmenten inzwischen zu durchaus als konstruktiv zu bewertenden Anlagemöglichkeiten.
Abb. 10: Entwicklung der Risikoaufschläge
[Quelle: Bloomberg, Zeitraum: 5 Jahre, Stand: 30.06.2022]
Gerade die Risikoaufschläge für Investment Grade Anleihen erreichen ein Niveau, welches in der Vergangenheit immer mit einer als attraktiv zu bewertenden Vergütung der eingegangenen Risken einherging. Die Spreads sind nicht mehr weit von den während der Corona-Panik erreichten Höchststände entfernt. Zur richtigen Einordnung dabei gehört, dass die Spreads 2020 sehr wahrscheinlich noch weiter angestiegen wären, hätten Notenbanken und Regierungen mit ihren Notstandsmaßnahmen die Marktbewegungen nicht zur Umkehr gezwungen. So ist vorstellbar, dass die Bepreisung der Kreditrisiken im aktuellen Zyklus das vorherige Hoch auch übertreffen kann.
In Anbetracht der erhöhten Rezessionswahrscheinlichkeit in der zweiten Jahreshälfte und daraus folgenden Bonitätsverschlechterungen, Ratingabstufungen und Ausfällen ist es ohnehin noch zu früh für ein beherzteres Engagement auch in offensiveren Bonitäten. Sehr wahrscheinlich werden sich mit weiter steigenden Spreads aber auch bei schwächeren Investment Grade und besseren High Yield Emittenten erste Gelegenheiten für Zukäufe ergeben. Wenn die Unternehmenslandschaft in dieser Rezession ohne Rettungsschirme, Ausfallgarantien und staatliche Hilfsmaßnahmen auskommen muss, könnten in Kombination mit "Nachholeffekten" aus während der Pandemie verschleppten Insolvenzen auch hier ein mögliches Überschießen der Spreads zu interessanten Marktbedingungen führen.
Das Aktiensegment verbleibt zunächst auf neutraler Gewichtung. Auch für Aktien gilt: Der Trend ist gegen die Anlageklasse gerichtet. Die Markttechnik ist beschädigt, die Stimmung schlecht, das Sentiment damit fast schon ein positiver Kontraindikator. Entscheidend sind die Bewertungen. Als großer "Leitindex" hat der S&P 500 noch immer nicht auf ein Niveau korrigiert, welches historisch mit nachfolgend als attraktiv zu wertenden Aktienrenditen korrespondierte. In vielen Segmenten, gerade den hoch gewichteten und nach der Pandemie viel zu stark gestiegenen Technologiewerten, müssen die Bewertungen sicher noch weiter zurückkommen. Außerhalb des Technologiebereichs und in Regionen außerhalb der USA sind inzwischen deutliche Bewertungskompressionen erfolgt, die Aktienanlagen vielfach als vertretbar erscheinen lassen. Doch auch für Aktien ist der Inflationsausblick zentral: Im Umfeld von Stagflation und Hoch- oder Hyperinflation erzielen Aktien zwar hohe nominale Gewinne, halten aber meist nicht Schritt mit dem Anstieg der Lebenshaltungskosten. In den 1970er Jahren erlitten Aktionäre reale Verluste und auch im Zuge der Weimarer Hyperinflation waren Aktienanleger 1922 zwar im Vorteil gegenüber Anleihegläubigern, die Totalverluste verbuchten, doch reichten die Kurssteigerungen bei Weitem nicht aus, um das Anlagekapital zu erhalten.
Abb. 11: Die extremen Bewertungsniveaus der Aktienmärkte mahnen zur Vorsicht
[Quelle: Bloomberg, Zeitraum: 30.03.1990-30.06.2022; monatliche Daten, Hinweis: Zahlenangaben beziehen sich auf die Vergangenheit. Frühere Wertentwicklungen sind kein verlässlicher Indikator für künftige Wertentwicklungen]
Für Aktien, wie für andere Anlageklassen auch, sind die weiteren Verläufe von Inflationspfad und Zinspfad der Notenbanken entscheidende Variablen. Beide Pfade bedingen einander gegenseitig. Die Notenbanken können entweder den Weg des größeren Widerstands nehmen und tatsächlich weiter in den Abschwung hinein straffen, was zu Rezession, weiteren (gesunden) Marktbereinigungen sowie Bewertungskorrekturen an Kapital- und Immobilienmärkten führen würde und dabei zwar kurzfristig mehr Schmerzen bedeutet, dafür aber nach vorne blickend eine Rückkehr zu Normalbedingungen ermöglicht. Alternativ würden die Notenbanken an sich notwendige Zinserhöhungen wie 2018 abbrechen, damit eine Rückkehr der spekulativen Risikofreude auslösen, aber das Inflationsproblem verschleppen und anfachen. Ein für Anleger ungünstiges, anhaltendes Inflationsumfeld würde dann wahrscheinlicher. So ist zu hoffen, dass die Geldpolitik diesmal nicht den Weg der geringeren Widerstände wählt. Eine konsequente Inflationsbekämpfung der Notenbanken wäre nicht nur für Verbraucher wünschenswert, sondern gewährt auch Anlegern geordnete Verhältnisse und Marktbedingungen, unter denen Investmentportfolien auch wieder ansprechendere Rendite-Risiko-Eigenschaften als zuletzt ermöglichen können.
Positive Realzinsen waren in der Vergangenheit der nötige Hygienefaktor, von dem aus angemessene Kapitalmarktrenditen erzielbar waren. Der Zusammenhang zwischen Realzinsniveau und nachfolgend langfristig möglichen Gesamterträgen ist für nahezu alle Anlageklassen statistisch eng. Gelingt es den Notenbanken, die Realzinsen wieder in den positiven Bereich zurückzuführen, sind die Aussichten für Kapitalanlagen nach vorne gerichtet wieder sehr viel freundlicher als über die letzten zehn Jahre.