Die Suche soziale Geborgenheit und Sicherheit ist wichtiger geworden als Freiheit. "Die Deutschen wollen auf Nummer Sicher gehen," bestätigt der Zukunftswissenschaftler Prof. Dr. Horst W. Opaschowski auf der RMA Jahreskonferenz 2012. Zukunftsforschung als Risikomanagement heißt: Das Undenkbare denken. Viele Szenarien, die in den vergangenen Jahren eingetreten sind, waren für die Mehrzahl der Experten undenkbar. Der Zukunftswissenschaftler spricht hierbei von "Wild Cards".
Wildcards sind plötzliche zufällige und unerwartete Ereignisse in der Geschichte und Natur, die eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit haben, die aber wesentliche Änderungen bewirken, ähnlich wie ein Joker im Kartenspiel. Derartige außergewöhnliche Einzelereignisse, die Risikomanager "Schwarzen Schwan" (Black Swan) nennt, sind "Ausreißer", die außerhalb des üblichen Bereichs der Erwartung liegt, da in der Vergangenheit nichts Vergleichbares geschehen ist. Bevor Australien entdeckt wurde, waren die Menschen in der Alten Welt überzeugt, alle Schwäne seien weiß. Diese Überzeugung war unanfechtbar, da sie durch die empirische Evidenz anscheinend völlig bestätigt wurde. Als der erste schwarze Schwan gesichtet wurde, wurde das bisherige Gedankengebäude schwer erschüttert. Die Schwarze-Schwan-Illustration veranschaulicht eine schwerwiegende Beschränkung bei unserem Lernen durch Beobachtung oder Erfahrung und die Zerbrechlichkeit unseres (historischen) Wissens.
Da die meisten Beobachter über den eigenen Tellerrand nicht hinausschauen, war für sie klar, dass alle Schwäne weiß sind. Es lag schlichtweg außerhalb der eigenen Erfahrungen und Vorstellungskraft, dass schwarze (Trauer-)Schwäne in allen Bundesstaaten Australiens vorkommen, sowohl auf dem Festland wie auch in Tasmanien.
Opaschowski ist davon überzeugt: "Das Schlaraffenland ist abgebrannt. Das warme Bad im Wohlstand ist vorbei." Die Wohlstandsgesellschaft entlässt ihre Kinder in eine unsichere Zukunft. Die überwiegende Mehrheit der Menschen vertritt mittlerweile die Auffassung: Für die junge Generation ist es in Zukunft viel schwieriger, ebenso abgesichert und im Wohlstand zu leben wie die heutige Elterngeneration. "Mit Sicherheit – mehr Freiheit" lautet die neue Leitlinie des Lebens. Dies bleibt nicht folgenlos. Folgende Zukunftstrends zeichnen sich bereits heute ab:
0,5 X 2 X 3: Die Zukunftsformel der globalisierten Arbeitswelt
In letzter Konsequenz bedeutet Globalisierung auch Verteilung der Arbeit rund um den Globus, so Opaschowski. Arbeitsplätze werden quer über den Globus exportiert. Für die übrigen verbleibenden Vollzeitbeschäftigten gilt: Ihre Arbeit wird immer intensiver und konzentrierter, zeitlich länger und psychisch belastender. Aus der Sicht der Unternehmen ist dies jedoch auch mit einer höheren Produktivität und Effizienz verbunden. "Die neue Arbeitsformel für die Zukunft lautet: 0,5 x 2 x 3", erklärt Opaschowski (Foto). Dies bedeutet, dass die Hälfte der Mitarbeiter doppelt so viel verdient und dafür dreimal so viel leisten muss wie früher.
Die Zuwanderung als Zukunftspotenzial
Als zweiten Zukunftstrend skizziert der Hamburger Zukunftsforscher den strategischen Kampf um die besten Köpfe. Um den Wohlstand zu erhalten benötigen wir zukünftige eine Zuwanderung qualifizierten Talente. Die Realität sieht heute anders aus. Deutschland zieht tendenzielle eher die unqualifizierten Kräfte an, während die Zuwanderungstalente ihre Zukunft eher in Kanada oder in die USA finden. Unternehmen, Städte und Kommunen werden daher immer mehr um junge qualifizierte und motivierte Nachwuchskräfte aus dem Ausland wetteifern. Dazu bieten sie mehr als "harte" Standortfaktoren wie beispielsweise hohe Einkommen und Karrieremöglichkeiten. Als neuer Standortfaktor kommt in Zukunft die örtliche Toleranz für ethnische Minderheiten hinzu.
Die Leistungsexplosion der jungen Generation
Die Leistungsgesellschaft lebt. Opaschowski skizziert als dritten Zukunftstrend, dass die Mehrzahl der Menschen Leistung als Voraussetzung für eine lebenswerte Zukunft betrachtet. Die Leistungsorientierung des Lebens nimmt vor allem bei der Jugend fast explosionsartig zu. Beinahe erdrutschartig geht inzwischen der Anteil der Hedonisten, der "nur" sein Leben genießen will, zurück.
Der "zweite" demografische Wandel
Viele Menschen haben eine neue Lust am Leben entdeckt. Der Trend zur Individualisierung des Lebens hat seinen Zenit überschritten. "Die Mehrheit der jungen Leute entdeckt den Wert von Verlässlichkeit wieder", ergänzt Opaschowski. Für den wachsenden Trend zur Beständigkeit spricht auch, dass die Ehen wieder stabiler werden und es auch weniger Scheidungen gibt. In Zukunft wird die Familie kein Auslaufmodell mehr sein. Die unter 34-Jährigen werden sich Zug um Zug vom Singledasein und der Kinderlosigkeit verabschieden.
Die Arbeitswelt wird weiblicher
97 Prozent der Vorstände in Deutschland sind männlich. Diese Situation soll sich in den nächsten Jahren ändern. In der Zukunft werden Frauen einen deutlich höheren Anteil aller Führungspositionen in der Wirtschaft besetzen. Im Jahr 2030 wird jeder dritte Spitzenjob mit einer Frau besetzt sein. Die männlichen "Helden der Arbeit" verlieren ihre Privilegien. Frauen bekommen zunehmend größere Berufschancen, weil sie immer besser qualifiziert sind und die Männer teilweise übertreffen. Bundesweit erzielen Mädchen und junge Frauen schon heute bessere Schulabschlüsse als ihre männlichen Kollegen. Zur Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie gesellt sich die Frage der Vereinbarkeit von Frauen- und Männerrollen. In dem Kontext stellt sich die Frage: Wer "spielt" in Zukunft die Hauptrolle des Versorgers und wer die Nebenrolle des Zuverdieners?
Re-Start mit 50
Zum demografischen Wandel in der Gesellschaft gesellt sich in den nächsten zwanzig Jahren ein grundlegender Beschäftigungswandel in der Arbeitswelt. Dann heißt es nicht mehr: "Mit 50 zum alten Eisen", sondern: "Re-Start mit 50!" Die Wirtschaft braucht wieder ältere Arbeitnehmer. Die 50plus-Generation bekommt ihre zweite Chance. Die Nachhaltigkeit ist dann wieder mehr gefragt als die Kurzfristigkeit – mehr langfristige strategische Planung und weniger kurzfristiges Renditedenken.
Comeback mit 65
Die gesetzliche Altersgrenze wird von immer mehr Menschen als Zwangsrente mit Fallbeilcharakter empfunden. "Die Bundesbürger wollen in Zukunft ihre Altersgrenze selbst bestimmen und den Übergang in den Ruhestand flexibel gestalten", skizziert Opaschowski den siebten Trend. Fast drei Viertel aller Berufstätigen in Deutschland sind heute schon bereit, freiwillig über das 65. Lebensjahr hinaus zu arbeiten, weil sie dadurch ihre Rente aufstocken können, aber auch im Alter weiter gebraucht werden und gesellschaftlich wichtig bleiben.
Wahlverwandtschaften und soziale Konvois
"Gemeinsam statt einsam" heißt das Wohn- und Lebenskonzept der Zukunft: Mehr Generationenhaus und Hausgemeinschaft als Heimplatz und betreutes Wohnen gehören zukünftig zum Standard. Aus Sicht des Zukunftsforschers Opaschowski erlebt der Gedanke der Wahlfamilie eine Renaissance. Die Immobilienbranche sollte sich von überhöhten Renditeerwartungen im Bereich von Seniorenimmobilien verabschieden. Dem Service-Wohnen bzw. generationsübergreifenden Wohnkonzepten mit Dienstleistungsangeboten gehört eindeutig die Zukunft.
Gesundheitsorientierung als Zukunftsreligion
Wellness ist eine Religion des 21. Jahrhunderts. Sie wird nicht selten mit religiöser Inbrunst betrieben und stehe in der Gefahr, als Körperkult betrieben zu werden. Als neunten Zukunftstrend ist Opaschowski davon überzeugt, dass Gesundheit zum Megamarkt der Zukunft wird. In der immer älter werdenden Gesellschaft boomen dann Bio- und Gentechnologien, Pharmaforschung und Forschungsindustrien gegen Krebs, Alzheimer und Demenz sowie gesundheitsnahe Branchen, die Care, Vitalität und Revitalisierung anbieten. Die Gesundheit bekommt in Zukunft fast Religionscharakter und das Gesundheitswesen nimmt beinahe die Form einer Kirche an, denn die Gesundheit stellt den wichtigsten Wert im Leben dar.
Gut leben statt viel haben
Als zehnten Trend skizzierte der Hamburger Zukunftswissenschaftler den neuen Wohlstandsmaßstab. Die Wohlstandsformel in Bertolt Brechts Dreigroschenoper – "Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm" – wird neu bewertet. Wohlstand wird zu einer Frage des persönlichen und sozialen Wohlergehens. In Zukunft kann Wohlstand auch bedeuten, weniger Güter zu besitzen und doch besser zu leben. Die Deutschen wollen lieber glücklich als reich sein. Ein illusionsloser Optimismus breitet sich aus: Die Mehrheit der Deutschen will trotz anhaltender Krisen das Beste aus ihrem Leben machen. Die Forderung "Wohlergehen für alle" löst die Nachkriegsformel "Wohlstand für alle" ab.
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Kommentare zu diesem Beitrag
Cicero hat Recht: "Kein Volk gibt es, wie ich sehe, mag es noch so fein und gebildet, noch so roh und unwissend sein, das nicht der Ansicht wäre, die Zukunft könne gedeutet und von gewissen Leuten erkannt und vorhergesagt werden." ;-(((