Phantomrisiko
Die Wahrnehmung von Risiken ist eine höchst subjektive Angelegenheit. Was für den Einen ein Risiko ist, braucht für den Anderen noch lange keines zu sein.
Und nicht selten täuschen uns die Sinne – auch als Sinnestäuschung bezeichnet (griechisch = phantásma = Phantom). Phantomrisiken resultieren daher vor allem aus der gesellschaftlicher Ungewissheit und einer individuellen Risikowahrnehmung. Phantomrisiken tauchen dort auf, wo die Technikbegeisterung der Industriegesellschaft in Skepsis und Bedenken umschlägt. Obwohl häufig nicht wissenschaftlich nachweisbar, werden bei neuen Technologien, Materialien, Produkten oder Produktionsweisen gesundheits- und umweltschädigende Wirkungen vermutet. Und obwohl es sich nur um einen vagen Verdacht handelt, sind Phantomrisiken real: sie manifestieren sich unter anderem in Angst, psychosomatischen Störungen, Gerichtsurteilen und neuen Gesetzen, aber auch in Schadensersatzforderungen, Umsatzrückgängen und Reputationsschäden.
Phantomrisiken zeichnen sich insbesondere durch folgende Eigenschaften aus:
- Ein ursächlicher Zusammenhang (Kausalität) zwischen Ereignis und Schaden ist nicht nachweisbar, sondern basiert auf Vermutungen,
- die Eintrittswahrscheinlichkeit ist mit statistisch-mathematischen Methoden nicht berechenbar,
- das konkrete Schadensausmaß ist nicht abschätzbar,
- das Gefährdungspotenzial wird aufgrund der unterschiedlichen Betroffenheit und der ungleichen Verteilung der Verluste divergierend wahrgenommen,
- durch negative Grundstimmung, öffentliche Kontroversen und verändertes Konsumentenverhalten (bis hin zu Boykotten) wird ein wirtschaftliches Sanktionspotenzial aufgebaut.
Da Phantomrisiken sind per definitionem nicht antizipierbar beziehungsweise kalkulierbar sind, spielt bei ihrer Bewertung die öffentliche Wahrnehmung eine entscheidende Rolle. Wenn hier jedoch der Verdacht entsteht, dass beispielsweise elektromagnetische Strahlen Umwelt- und Gesundheitsrisiken zur Folge haben, so wird aus einem Phantomrisiko ein reales Risiko. Dieser Prozess wird vor allem von den Medien, der Politik, der Wissenschaft und vielen Interessengruppen beeinflusst. Die vielfältigen Interessenlagen und Perspektiven machen eine objektive Quantifizierung hinsichtlich Relevanz und Konsequenzen praktisch unmöglich. Trotzdem induzieren Phantomrisiken nicht selten Änderungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung. Eine entscheidende Größe spielen in diesem Zusammenhang auch mögliche Reputationsschäden für Unternehmen.
Der gesellschaftliche Umgang mit Risiken macht in modernen Volkswirtschaften einen wesentlichen Teil der politischen Auseinandersetzung aus. Kurz nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl wurde von dem Soziologen Ulrich Beck daher der Begriff der "Risiko-Gesellschaft" geprägt. Dieser Begriff weist darauf hin, dass in hoch entwickelten Industriegesellschaften inzwischen mehr (soziale, ökologische, individuelle, politische etc.) Risiken entstanden und entstehen, als die vorhandenen Sicherungs- und Kontrollmechanismen des Staates bewältigen können. Risiken haben heute eine ganz andere Dimension als noch vor einigen Jahrzehnten. Waren früher nur Individuen beziehungsweise einzelne Regionen oder Gruppierungen betroffen, sind heute viele Risiken durch ihre weit reichenden Wirkungen gekennzeichnet. Terrorismus, Atomkatastrophen, Epidemien und die Erderwärmung sind globale Phänomene. Experten nennen dies "Allbetroffenheit", da Risiken in der postindustriellen Gesellschaft weder zeitlich noch räumlich eingegrenzt werden können.