Dr. Doom hat ein Buch über die Lehren der jüngsten Finanzkrise und die Neuordnung der Finanzmärkte geschrieben. Henry Kaufman, bis 1987 Banker beim Bankhaus Salomon Brothers, äußerte sich immer wieder skeptisch und kritisch über die Entwicklungen an den Finanzmärkten. So kritisierte er beispielsweise seit 2001, dass die Banken in den USA leichtfertige Kredite vergeben würden. Durch Deregulierung und neue Finanzprodukte, mangelnde und fragmentierte Aufsicht würden der Volkswirtschaft immense Schäden zugefügt. Diese kritische Sichtweise war der Grund, dass er den Spitznamen Dr. Doom erhielt.
Kaufman ist sich sicher, dass die derzeitige Krise die Finanzmärkte noch auf Jahre hinaus prägen wird. Einige der Konsequenzen – etwa die Abkehr von riskanten und potenziell gefährlichen Finanzprodukten – werden von vielen Marktteilnehmern wohl positiv eingeschätzt. Andere hingegen, darunter insbesondere die zunehmende Staatsverschuldung, lassen künftige Probleme bereits erahnen. Der Autor beschreibt die Hintergründe der Krise von der "Stunde Null" nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die heutige Zeit. Bereits damals wurden die Weichen für die heutige Situation gelegt.
Die Erfahrungen der Hyperinflation Anfang der 1920er Jahre in Deutschland und die "Große Depression" prägten die Sichtweise Henry Kaufmans. In der Folge dachte er viel über das Zusammenspiel von Wirtschafts- und Finanzaktivitäten, über das Verhalten und die strukturellen Veränderungen der Finanzmärkte sowie deren Auswirkungen auf die Politik nach. Seine Schlussfolgerung: Banken sind nicht zu vergleichen mit Unternehmen des Privatsektors, wie zum Beispiel Chemieunternehmen oder Warenhäusern. Sie spielen eine so tiefgreifende und unverzichtbare Rolle, dass sie einer strengeren öffentlichen
Kontrolle bedürfen. Ein Grund, warum Finanzinstitute besonders auf verantwortliches Handeln achten müssen, liegt darin, dass ihre Kapitalbasis im Verhältnis zu ihren Aktiva und Passiva – die aus zeitlich befristeten Geldanlagen, Einlagen von Privatsparern, Unternehmen und Regierungen bestehen – relativ gering ist.
Finanzinstitute müssen ihren unternehmerischen Risikodrang daher mit ihren treuhänderischen Verpflichtungen in Einklang bringen. Gelingt ihnen das nicht, liegt das meistens daran, dass das unternehmerische Risikowagnis die Oberhand gewonnen hat, so der Autor. Weil Finanzinstitute hohe Hebel einsetzen, kann eine schrittweise Zunahme der Hebel und anderer Formen des Risikowagnisses – mit denen sich die kurzfristigen Gewinne steigern lassen – zu Liquiditätsproblemen bis hin zu Solvenzproblemen führen, und zwar sowohl für das Institut selbst als auch für seine Kunden. Und wenn dieses unternehmerische Risikowagnis sich auf die gesamten Finanzmärkte auswirkt, kann daraus eine Finanzkrise entstehen.
In den vergangenen Jahrzehnten setzte sich die Expansion der Kreditmärkte mit großer Geschwindigkeit fort. Es tauchten zahlreiche neue Kreditinstrumente und Handelsusancen auf, und die Finanzmärkte globalisierten sich zunehmend. Das Gleichgewicht verlagerte sich immer stärker in Richtung eines unternehmerischen, von kurzfristigem Gewinnstreben getriebenen Risikowagnisses. Die Verbriefung, insbesondere der zunehmende Einsatz von Derivaten, erwies sich als anregendes Elixier für das mittlere Management von Finanzinstitutionen, die nach kurzfristigen Profiten lechzten, so der Autor. In den 1980er-Jahren war Henry Kaufman insbesondere besorgt, wie die strukturellen Veränderungen der Finanzmärkte dem exzessiven Risikowagnis Vorschub leisteten, sondern auch über das Versäumnis der Regierungsbeamten in der Fed und an anderen Positionen, die Methoden der Finanzaufsicht entsprechend anzupassen.
Und auch in den folgenden Jahren liberalisierten die Federal Reserve Bank und andere Regulierungsexperten der Regierung die Finanzmärkte unter der vorherrschenden Ideologie der freien Märkte weiter und ergriffen keine echten Maßnahmen gegen spekulatives Verhalten beziehungsweise gegen die steigende Flut an verbrieften Schuldtiteln.
Nach den schmerzlichen Erfahrungen der jüngsten Finanzkrise fragt sich Henry Kaufmann, wie es sein kann, dass wir Astronauten mit stecknadelgenauer Präzision auf den Mond katapultieren können, aber darin versagen, unsere Wirtschaft an gefährlichen Klippen vorbeizusteuern? Ein Grund könnte darin liegen, dass wir uns in Wissenschaft und Technik uns auf die wissenschaftliche Methode der experimentellen Entwürfe mit abhängigen und unabhängigen Variablen und reproduzierbaren Ergebnissen verlassen. Ökonomen und Finanzexperten sehen sich gerne als Vertreter der exakten Wissenschaften.
In den 1980er Jahren waren zahlreiche Ökonomen Anhänger der Theorie der rationalen Erwartung, die im Wesentlichen besagt, dass die Märkte allwissend und unfehlbar seien. All das verlieh der Zunft der Ökonomen eine Aura der Autorität, Authentizität und wissenschaftlichen Genauigkeit. Die Computerberechnungen waren korrekt, doch die Schlussfolgerungen, die daraus gezogen wurden, waren es allzu oft nicht. Das liegt unter anderem daran, dass die Modelle auf historischen Daten basieren, die tiefgreifende Auswirkungen der strukturellen Veränderungen, die sich in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg in unserer Wirtschaft und an unseren Finanzmärkten vollzogen haben, jedoch unberücksichtigt lassen.
Fazit: Die Analyse des Autors basiert auf seinen soliden und umfassenden historischen Erfahrungen. Henry Kaufman ist lebende Finanzgeschichte. Daher hebt sich sein Buch auch vom Einheitsbrei der Veröffentlichungen rund um die Finanzkrise ab. Henry Kaufmans Konsequenzen sind tiefgreifend und in Teilen provokant.
Rezension von Frank Romeike