Indien, China und das europäische Erwachen

Geschichten aus der Mathematik


Rezension

Heinz Klaus Strick weist in seinem aktuellen Buch "Geschichten aus der Mathematik" auf, dass unser Wissen über den Ablauf der Geschichte der mathematischen Wissenschaften sehr eurozentrisch geprägt ist. Der Autor war über 37 Jahre Mathematiklehrer an einem Gymnasium und wirbt mit unzähligen populärwissenschaftlichen Sachbüchern dafür, sich mit Mathematik zu beschäftigen. Insbesondere die Stochastik hat es ihm angetan. Seine Begründung hierfür: "Wir machen täglich unsere Erfahrungen mit Vorgängen, die mit dem Zufall zu tun haben – die möchte man doch verstehen, oder?".

Autor Strick zeigt in der Einführung seines Buches auf, dass in der mathematischen Ausbildung an erster Stelle das "griechische Erbe" steht, das im Wesentlichen von Euklid, der wahrscheinlich im 3. Jahrhundert v. Chr. in Alexandria gelebt hat, in den Elementen zusammengetragen wurde. Strick weiter: "Die Beiträge von Archimedes, Apollonius, Heron, Diophant und Pappos spielen eine eher geringere Rolle. Doch dass uns diese Werke erhalten blieben, verdanken wir insbesondere den Mathematikern des islamischen Kulturkreises." Diese Werke der Antike wurden nicht nur von ihnen bewahrt, sondern oft sogar weiterentwickelt. "Beispielsweise wird der Name al-Khwarizmis oft nur erwähnt, weil aus der Verballhornung seines Namens die "modernen" Begriffe Algebra und Algorithmus entstanden. Strick empfiehlt, sich mit den ausführlichen Geschichten über Muhammedal-Khwarizmi, Alial-Hasan Ibnal-Haitham, Abu Arrayhanal-Biruni, Omar Khayyam und Jamshidal-Kashi zu beschäftigen.

Die Idee zu dem Buch entstand, als der Autor sich mit der Geschichte der Jesuiten in China beschäftigte: Matteo Ricci, Johann Adam Schall von Bell und Ferdinand Verbiest verfolgten den Plan, die "ungebildeten" heidnischen Chinesen durch Euklid von der Überlegenheit der europäischen Kultur zu überzeugen. Autor Strick weiter: Es ist "[…] faszinierend und gleichzeitig arrogant – mit anderen Worten: eurozentrisch verblendet."

Das Buch von Heinz Klaus Strick ist in insgesamt acht Kapitel gegliedert. Nach einem kurzen einführenden Kapitel beschäftigt sich Kapitel 2 "Europäische Missionare in China: Euklid als Wegbereiter für das Christentum?" mit dem Versuch der Missionare aus dem Orden der Jesuiten, die chinesische Bevölkerung zum Christentum zu bekehren. Doch die Tätigkeit der Jesuiten hatte keine bleibenden Auswirkungen auf die Fortentwicklung der Mathematik in China. "Der Versuch, Menschen zur Annahme einer kulturfremden Religion zu bewegen, indem man ihnen die Überlegenheit der astronomischen Methoden demonstrierte, zahlte sich letztlich nicht aus.", so Heinz Klaus Strick. Der chinesische Gelehrte Mei Wending (1633–1721) wies vielmehr darauf hin, dass die Neun Kapitel mathematischer Kunst alles Wesentliche enthalten. Die Elemente des Euklid beispielsweise bezeichnete er als "weitschweifig und mit zu vielen unnötigen Details überladen" und stellte die Frage "Warum erläutert Euklid die Konstruktion des goldenen Schnitts, ohne uns zu sagen, wofür man dies verwenden kann?" Das wiederum erinnert einen mitunter an unsere heutige Realität, wo im Mathematikunterricht auch nicht erläutert wird, wofür bestimmte Methoden (beispielsweise aus der spannenden Welt der Stochastik) im realen Leben verwendet werden können.

Das anschließende Kapitel 3 "Das europäische Erbe: Die ersten sechs Bücher der Elemente des Euklid" setzt sich mit den sechs Büchern der Elemente des Euklid auseinander, mit denen Matteo Ricci (siehe Kapitel 2) die Chinesen von der Überlegenheit der europäischen Wissenschaften im Vergleich zur chinesischen überzeugen wollte.

In Kapitel 4 "Die Entwicklung der Mathematik in China vor dem Eindringen der Europäer" werden einige der Persönlichkeiten der Mathematikgeschichte Chinas vorgestellt und beschrieben, die relevante Beiträge zur Entwicklung der Mathematik in China geleistet haben. Der Autor zeigt auf, welches erstaunliche mathematische Niveau in den Jahrhunderten vor den Missionsversuchen der Europäer erreicht worden war.

In Kapitel 5 "Mathematik auf dem indischen Subkontinent" wird erläutert, welch anspruchsvolle Mathematik in diesen Regionen betrieben wurde – zu einer Zeit, als sich Europa noch im mittelalterlichen Schlaf befand. Einige der bahnbrechenden Ideen wie die Verwendung des Dezimalsystems gelangten über den islamischen Kulturraum bereits im Mittelalter nach Europa. Bei anderen wurde der Vorsprung indischer Mathematiker erst im 19. und im 20. Jahrhundert entdeckt, so der Autor.

Das Kapitel 6 "Europa erwacht aus dem mittelalterlichen Schlaf: Leonardo von Pisa (1170-1250)" widmet sich dem Leben und dem Lebenswerk von Leonardo von Pisa, auch Fibonacci genannt, der mit seinen Büchern wichtige Impulse für die Weiterentwicklung der Mathematik in Europa gab. Fibonacci machte sich auf seinen Reisen nach Nordafrika, Byzanz und Syrien mit der arabischen Mathematik vertraut und verfasste mit den dabei gewonnenen Erkenntnissen das Rechenbuch Liber ab(b)aci im Jahre 1202. Das Buch gilt als eines der wichtigsten Bücher der Mathematikgeschichte Europas. Leonardo von Pisa ist heute vor allem bekannt für die nach ihm benannte Fibonacci-Folge, die im Zusammenhang mit dem Goldenen Schnitt steht. Es genoss hohes Ansehen bei den Wissenschaftlern am Hofe Friedrichs II., dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches.

Das Kapitel 7 "Europäisches Erwachen I: Von Oresme bis Dürer" skizziert einzelne Persönlichkeiten, durch die die Entwicklung der Mathematik in Europa besondere Impulse erhielt. Der Autor beschäftigt sich mit dem Leben und dem Wirken von Nicole Oresme (1323-1382), Nicolas Chuquet (1445-1488), Regiomontanus (1436-1476), Luca Pacioli (1445-1517), Leonardo da Vinci (1452-1519) und Albrecht Dürer (1471-1528). Das abschließende Kapitel 8 "Europäisches Erwachen II: Von Ries bis Clavius" beschäftigt sich mit dem Wirken und den Impulsen der folgenden europäischen Mathematiker: Adam Ries (1492-1559), Christoff Rudolff (1499-1543), Michael Stifel (1487-1567), Robert Recorde (1510-1558), Simon Stevin (1548-1620), Pedro Nunes (1502-1578) und Christopher Clavius (1538-1612).

Fazit: Das Buch "Geschichten aus der Mathematik" von Heinz Klaus Strick präsentiert in einer didaktisch exzellenten Art, welch erstaunliche Vielfalt an mathematischen Ideen außerhalb Europas entwickelt wurde und wie erst anschließend auch in Europa die Mathematik aus dem mittelalterlichen Schlaf erwachte. Das Buch zeichnet sich dadurch aus, dass es die Lebensgeschichten von Mathematikern aus den genannten Kulturen erzählt und konkrete mathematische Probleme und Theorien skizziert, mit denen sie sich beschäftigt und für die sie Lösungswege gefunden haben. So würde man sich auch einen Mathematikunterricht heute vorstellen. Das Buch verdeutlich vor allem auch, mit welcher Arroganz wir auf andere Kulturen schauen und uns in unserer "Eurozentrischen Verblendung" sonnen. Das 400 Seiten starke Buch liefert spannende und unterhaltsame Einsichten in die faszinierend Welt der Mathematik, ohne die auch ein fundiertes und wirksames Management von Risiken nicht möglich sein kann.

[ Bildquelle Titelbild: Springer Verlag ]

Details zur Publikation

Autor: Heinz Klaus Strick
Auflage: 1. Auflage
Seitenanzahl: 414
Verlag: Springer Verlag
Erscheinungsort: Berlin
Erscheinungsdatum: 2023

RiskNET Rating:

sehr gut Praxisbezug
sehr gut Inhalt
sehr gut Verständlichkeit

sehr gut Gesamtbewertung

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