Praxisnahes Standardwerk in der 6. Auflage

Handbuch Energiehandel


Rezension

In diesem Jahr wurde eine 6., vollständig überarbeitete Auflage des "Handbuch Energiehandel" veröffentlicht. Das rund 780 Seiten umfassende Handbuch gilt als praxisnahes Standardwerk. Herausgegeben von Hans-Peter Schwintowski, Frank Scholz und Andreas Schuler, verbindet das Buch rechtliche sowie empirisch-ökonomische Perspektiven und reagiert auf die erheblichen Umbrüche der Energiebranche, die durch Energiewende, Dekarbonisierung, Digitalisierung und geopolitische Verwerfungen geprägt sind.

Struktur und Schwerpunkte des Handbuchs

Im Zentrum des Buches steht die systematische Darstellung der Energiebeschaffung und -vermarktung in liberalisierten Märkten. Die Autoren erläutern detailliert die Funktionsweise der Energiebörsen – insbesondere der European Energy Exchange (EEX) in Leipzig und der European Power Exchange (EPEX Spot) – sowie den bilateralen außerbörslichen Handel (OTC), der für viele Marktteilnehmer von zentraler Bedeutung ist. Beleuchtet werden unter anderem Marktzugang, Kontraktformen, Settlement-Prozesse und Preisbildungsmechanismen.

Die EEX mit Sitz in Leipzig ist die führende Terminbörse für Strom in Europa. Hier werden standardisierte Futures und Forwards gehandelt, die auf die mittel- bis langfristige Absicherung von Strompreisen zielen. Die EPEX Spot hingegen ist auf den Kurzfristhandel (Day-Ahead und Intraday) spezialisiert und bildet das operative Zentrum des Spotmarktes. Im OTC-Handel (Over-the-Counter) werden Stromlieferverträge direkt zwischen zwei Parteien verhandelt – meist ohne Einschaltung einer zentralen Börse. Dieser Markt ist deutlich flexibler: Kontraktformen reichen von Standardlieferungen (Base, Peak) bis zu individuell zugeschnittenen strukturierten Produkten.

Die Preisbildung auf den Börsen erfolgt nach dem Merit-Order-Prinzip. Dieses Prinzip ist ein Verfahren zur Reihenfolge der Stromerzeugung nach den Grenzkosten der Kraftwerke: Zuerst werden die günstigsten Anlagen (beispielsweise Wind, Solar) zur Deckung der Stromnachfrage eingesetzt, danach teurere Kraftwerke (beispielsweise Gas, Öl). Der Preis am Strommarkt richtet sich dabei nach dem teuersten Kraftwerk, das noch benötigt wird, um die Nachfrage zu decken – dem sogenannten Grenzpreis. Dieses Prinzip sorgt für effiziente Preisbildung und setzt Anreize für den Einsatz kostengünstiger und emissionsarmer Energiequellen. 

Die zentralen Themen: Risikomanagement und Regulierung 

Ein zentrales Thema der neuen Auflage ist das Risikomanagement im Energiehandel. Die Autoren Scholz und Schuler analysieren verschiedene Risikotypen – Preisrisiken, Mengenschwankungen, Kontrahentenrisiken und regulatorische Unsicherheiten – und stellen Instrumente zur Identifikation, Steuerung und Absicherung vor. Das Kapitel zum Risikomanagement ist nach den Themen Aufbauorganisation, Ablauforganisation, Risikocontrolling und Steuerungsmodell strukturiert. Im Unterkapitel Organisation verweisen die Autoren auch auf die Relevanz einer Verzahnung der Risikomanagement-Organisation mit anderen Kontroll- und Überwachungsfunktionen. Auf den Seiten 483/484 hätte ich mir gewünscht, dass die Autoren nicht auf den "alten" COSO-Würfel verweisen, sondern auf die aktuelle Version des COSO-Standards verweisen. Der aktuelle COSO-Standard "Enterprise Risk Management – Integrating with Strategy and Performance" aus dem Jahr 2017 bietet einen umfassenden Rahmen für die Implementierung eines effektiven Risikomanagements. Er betont vor allem die Bedeutung der Integration von Risikomanagement in die Unternehmensstrategie und -leistung.

Die Autoren setzen sich ergänzend mit dem Risikomaß Value at Risk auseinander und kritisieren hierbei, dass hier die Vergangenheit der Schätze für die Zukunft sei. Diese Aussage ist jedoch nur dann korrekt, wenn rein historische Daten (siehe Zeitreihenanalyse und Historische Simulation sowie Varianz-Kovarianz-Ansatz) in die Berechnung des Value at Risk einfließen. Wenn zukünftige Informationen (etwa aus einer Szenarioanalyse im Sinne "Lernen aus der Zukunft") in die Analyse einfließen, stimmt diese Aussage nicht.

Kritisch bewerte ich auch die wiederholt gemachten Aussagen, dass die stochastische Simulation (Monte-Carlo-Simulation) mit einem hohen Aufwand verbunden wäre. Da die zitierte Normalverteilungshypothese gerade im Energiehandel (hier sei nur beispielhaft auf Strompreise verwiesen) so gut wie nie gilt, wäre es grob fahrlässig, mit einem Varianz-Kovarianz-Ansatz zu arbeiten. Im Zeitalter frei verfügbarer Datenanalyse-Werkzeuge wie R oder Python und AI-Rechenkünstlern wie GPT-4 Turbo (in Kombination mit Python-Tools, etwa NumPy, SciPy, Pandas), Claude 3 (Anthropic), Google Gemini 1.5, Mistral & Mixtral und Wolfram|Alpha sollte Data Analytics auch im Energiehandel der Standard sein und ein Varianz-Kovarianz-Ansatz der Vergangenheit angehören.

Das Kapitel liefert einen soliden und praxisorientierten Überblick über das Risikomanagement in Energiehandel. Bei einer Neuauflage würde ich mir wünschen, dass die Autoren tiefer auf die Themen Data Analytics und stochastische Simulation eingehen. Auf die berechtigte Kritik am Value at Risk hätte ich mir gewünscht, dass als Alternative der Expected Shortfall (ES) präsentiert wird – auch Conditional Value at Risk (CVaR) genannt, der sich in der Praxis längst etabliert hat. Der ES misst den durchschnittlichen Verlust im schlimmsten Fall, also den Erwartungswert aller Verluste jenseits des VaR-Niveaus. Damit überwindet er die zentralen Schwächen des VaR. Der ES ist koherenter, mathematisch stabiler und erfüllt wichtige Risikotheorie-Eigenschaften wie Subadditivität.

Auch sollte ein Kapitel zum Thema Risikotragfähigkeit und Risikodeckungspotenzial ergänzt werden. Hier liegt aus meiner Sicht eine Schwäche bei vielen Energieversorgern, die ihre Risikotragfähigkeit vor allem aus einer Eigenkapitalperspektive betrachten. Im Ernstfall führen Risikoeintritte wie Zahlungsausfälle, Marktverwerfungen oder operative Zwischenfälle zu realen Liquiditätsabflüssen. Energieversorger und Netzbetreiber sollten daher ihre Risikotragfähigkeit nicht bilanziell, sondern cashflow-orientiert beurteilen. Denn große Teile des Eigenkapitals stecken in nicht liquiden Vermögenswerten (beispielsweise Sachanlagen, Beteiligungen), die nicht kurzfristig zur Risikoabdeckung genutzt werden können.

Auf die Relevanz der Risikotragfähigkeit geht Hans-Peter Schwintowski in dem Kapitel "Bewältigung des Risikomanagements im Energiehandel" im Abschnitt "Krisenfrüherkennung nach § 1 StaRUG" ein. Er zeigt auf, dass Geschäftsleiter fortlaufen (!) über Entwicklung zu wachen haben, die den Fortbestand des Unternehmens gefährden könnten. Derartige "bestandsbedrohende Entwicklungen" resultieren in der Praxis aus kumulierenden Risikoeintritten, die dazu führen, dass das Risikodeckungspotenzial (in der Form von Liquidität) nicht mehr ausreicht. Gemäß § 17 InsO ist ein Unternehmen zahlungsunfähig, wenn es nicht in der Lage ist, seine fälligen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen. Gemäß § 18 InsO liegt eine "drohende Zahlungsunfähigkeit" vor, wenn das Unternehmen voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, seine Zahlungsverpflichtungen bei Fälligkeit zu erfüllen. Quantitative Simulationsmethoden liefern genau die Werkzeuge, um zukünftige Stressszenarien zu analysieren, die Risikotragfähigkeit (heute und in der Zukunft) zu berechnen und daraus die Insolvenzwahrscheinlichkeit abzuleiten.

Aktuelle Entwicklungen und politische Einflüsse

Die 6. Auflage greift zahlreiche aktuelle Entwicklungen auf, die seit der letzten Auflage aus dem Jahr 2021 maßgeblich geworden sind:

  • Die Folgen der Energiepreiskrise 2022/23, insbesondere bei Gas und Strom
  • Der wachsende Einfluss geopolitischer Risiken auf Versorgungssicherheit und Preisschwankungen
  • Die EPEX Spot (European Power Exchange) ist die zentrale europäische Strombörse für den Day-Ahead- und Intraday-Handel, an der unter anderem über den Euphemia-Algorithmus die grenzüberschreitende Preisbildung im Rahmen des europäischen Market Coupling erfolgt.
  • Das nationale Emissionshandelssystem (nEHS) ist ein deutsches Klimaschutzinstrument, das seit dem 1. Januar 2021 gilt und auf der Grundlage des Brennstoffemissionshandelsgesetzes (BEHG) eingeführt wurde. Es betrifft die Verwendung fossiler Brennstoffe außerhalb des europäischen Emissionshandels (EU-ETS), insbesondere in den Sektoren Verkehr und Gebäude.
  • Die Reforminitiativen im Strommarktdesign durch das Bundeswirtschaftsministerium (BMWK)
  • Entwicklungen im Bereich des EEG 2023
  • Handel mit Europäischen-, Nationalen- und Freiwilligen-Emissionszertifikaten
  • Die Integration von Energiespeichern und Flexibilitätsoptionen in den Handel

Zielgruppe des Handbuchs

Das "Handbuch Energiehandel" richtet sich an Fach- und Führungskräfte aus Energieunternehmen, Stadtwerken, Handelsunternehmen und Energieversorgern ebenso wie an Juristen, Regulierungsbehörden, Risikomanagement- und Compliance-Verantwortliche und wissenschaftliche Fachkreise. Mit zahlreichen Praxisbeispielen, grafischen Übersichten und rechtlichen Erläuterungen bietet es nicht nur ein tiefes Verständnis der Märkte, sondern auch konkrete Handlungshilfen für die tägliche Arbeit.

Fazit

Das "Handbuch Energiehandel" ist auch in seiner sechsten Auflage eine unverzichtbare Orientierungshilfe für alle, die sich in einem zunehmend dynamischen, regulierten und technologiegetriebenen Marktumfeld sicher bewegen wollen. In einer Zeit, in der Energiemärkte politisiert, globalisiert und dekarbonisiert werden, liefert es den strategischen und operativen Rahmen, um Marktchancen zu nutzen, Risiken zu steuern – und die Energiezukunft aktiv mitzugestalten.

[ Bildquelle Titelbild: Erich Schmidt Verlag ]

Details zur Publikation

Autor: Hans-Peter Schwintowski / Frank Scholz / Andreas Schuler
Auflage: 6., neu bearbeitete Auflage
Seitenanzahl: 782
Verlag: Erich Schmidt Verlag
Erscheinungsort: Berlin
Erscheinungsdatum: 2025

RiskNET Rating:

sehr gut Praxisbezug
sehr gut Inhalt
sehr gut Verständlichkeit

sehr gut Gesamtbewertung

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