Risikowahrnehmung ist ein Konstrukt

Risiko ist ein Konstrukt. Risiken sind ein Konstrukt unserer Wahrnehmungen: Unser Wissen, unsere Emotionen, Moralvorstellungen, Moden, Urteile und Meinungen bestimmen das Risikokonstrukt [vgl. Romeike/Müller-Reichart 2008, S. 53 ff. sowie Romeike 2013].

Was der eine als Risiko wahrnimmt, muss für den anderen noch lange kein Risiko sein. Des Weiteren basiert Risikowahrnehmung auf Hypothesen. Dadurch werden häufig für gleiche Risiken unterschiedliche Vermutungen und Theorien aufgestellt. Die Diskussion um die Risiken der Gentechnik ist ein Beispiel für die Subjektivität der (gesellschaftlichen) Risikowahrnehmung. Auf der einen Seite ist ein Widerstand als Protest gegen die Überwältigung durch Innovationsprozesse und basierend auf fundamental ethischen Einwänden zu beobachten. Auf der anderen Seite werden die Chancen in der Pflanzenzucht, Tierzucht, Lebensmittelindustrie und Medizin "wahrgenommen". Wahrnehmung wiederum wird durch einen Kontext, das heißt die Berücksichtigung der Raum- und Zeitperspektive, bestimmt. Es gibt keine Wahrnehmung ohne Zusammenhang. 

Finanz- und Währungskrisen liefern und regelmäßig Beweise, dass Menschen kein natürliches Gefühl für Risiken haben. Unter anderem liefert die Ankerheuristik (engl. anchoring effect) aus der Kognitionspsychologie einen Grund [vgl. Kahneman 2011, S. 119 ff.]. So haben vor allem Umgebungsinformationen selbst dann einen Einfluss auf die Einschätzung (von Risiken), wenn sie für die Entscheidung eigentlich irrelevant sind. Wir orientieren uns an einem willkürlichen "Anker": Risiko wird zu einem Konstrukt unserer Wahrnehmungen.

Außerdem fehlt Menschen ein intuitives Verständnis für Wahrscheinlichkeiten. Beispielsweise treffen wir Anlageentscheidungen nicht selten nur an Hand der Renditeerwartungen. Und blenden dabei aus, dass Renditeerwartungen nur im Kontext der hiermit verbundenen Risiken zu beurteilen sind. In der Wissenschaft wird hierbei von "Neglect of Probability" (Vernachlässigung der Wahrscheinlichkeit) gesprochen [vgl. Rottenstreich/Hsee 2001 sowie Kahneman 2011, S. 143 ff.]. Dies führt in der Praxis zu Entscheidungsfehlern und nicht selten auch zu mikro- oder makroökonomischen Krisen.

Schwarze Schwäne

Besonders kritisch mit der grundsätzlichen Aussagefähigkeit von Methoden und Modellen im Risikomanagement befasst sich Taleb [vgl. Taleb 2008]. Er verweist auf die herausragende Bedeutung sehr seltener und nahezu unvorhersehbarer Einzelereignisse. Derartige außergewöhnliche Einzelereignisse, die er "Schwarzen Schwan" (Black Swan) nennt, sind "Ausreißer", die außerhalb des üblichen Bereichs der Erwartung liegt, da in der Vergangenheit nichts Vergleichbares geschehen ist. 

Menschen unterschätzen im Risikomanagement systematisch die – häufig existenzbedrohenden – Folgen von Extremereignissen. Wir denken in schlüssigen Geschichten, verknüpfen Fakten zu einem stimmigen Bild, nehmen die Vergangenheit als Modell für die Zukunft. So schaffen wir uns eine Welt, in der wir uns zurechtfinden. Aber die Wirklichkeit ist anders: chaotisch, überraschend, unberechenbar. Taleb glaubt, dass die meisten Menschen "schwarze Schwäne" ignorieren, weil es für uns angenehmer ist, die Welt als geordnet und verständlich zu betrachten. Taleb nennt diese Blindheit "platonischer Fehlschluss" und legt dar, dass dies zu drei Verzerrungen führt [vgl. Romeike 2009]:

  • Erzählerische Täuschung (narrative fallacy): Das nachträgliche Schaffen einer Erzählung, um einem Ereignis einen erkennbaren Grund zu verleihen.
  • Spieltäuschung (ludic fallacy): Der Glaube daran, dass der strukturierte Zufall, wie er in Spielen anzutreffen ist, dem unstrukturierten Zufall im Leben gleicht. Taleb beanstandet Modelle der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie wie den Random Walk.
  • Statistisch-regressive Täuschung (statistical regress fallacy): Der Glaube, dass sich das Wesen einer Zufallsverteilung aus einer Messreihe erschließen lässt.

Heterogene Risikotypologien

Risiken effizient zu steuern und zu kontrollieren sowie Chancen zu erkennen und zu nutzen, gehört zur unternehmerischen Kerntätigkeit. Trotzdem ist die Bereitschaft der Unternehmen, Risiken einzugehen, sehr unterschiedlich und unter anderem auch abhängig von der persönlichen Risikoneigung der Unternehmensleitung bzw. der Eigentümer. Eine idealtypische Kategorisierung von Risikotypen ist in der nachfolgenden Abbildung dargestellt.

Eine "Maus" (A) geht ein geringes Risiko ein und hat einen äußerst geringen Kontrollaufwand. Der "Bürokrat" (C) hingegen ist ähnlich risikoscheu, nimmt aber durch seine Kontrollstruktur in Kauf, dass auch seine Chancen – und damit sein Wachstums- und Entwicklungspotenzial – äußerst begrenzt sind. Ein "Cowboy" (C) hingegen riskiert die Gefahr, von negativen Entwicklungen überrascht zu werden, die er nicht mehr kontrollieren kann. Der "kontrolliert handelnde Unternehmer" (D) demgegenüber verwendet bei seinen Entscheidungen die Werkzeuge des Risikomanagements und geht Risiken bewusst und kontrolliert ein, um die damit verbundenen Gewinnchancen zu realisieren.

Auch tragen Experten und Laien unterschiedliche "Risikobrillen" und sehen verschiedenes und bewerten Risiko unterschiedlich, auch wenn sie das gleiche Objekt betrachten. Laien wägen Risiken rein subjektiv ab (Wissen, Emotionen, Kultur etc.) und stellen sich beispielsweise folgende Fragen: "Fühle ich mich bedroht?" oder "Habe ich Angst?". Außerdem sind im Kontext Risikowahrnehmung und -bewertung die kulturellen Unterschiede zu berücksichtigen.


Weiterführende Literaturhinweise:

  • Gleißner, W./Romeike, F. (2012): Psychologische Aspekte im Risikomanagement - Bauchmenschen, Herzmenschen und Kopfmenschen, in: Risk, Compliance & Audit (RC&A), 06/2012, S. 43-46.
  • Kahneman, D. (2011): Thinking Fast and Slow, Penguin Books, Allen Lane 2011.
  • Romeike, F. (2009): Die 3 "M": Aktuelle Herausforderungen für das Risikomanagement von Versicherungsunternehmen, in: Mannheimer Vorträge zur Versicherungswissenschaft (Hrsg.: Institut für Versicherungswissenschaft der Universität Mannheim), Verlag Versicherungswirtschaft, Karlsruhe 2009.
  • Romeike, F./Müller-Reichart, M. (2008): Risikomanagement in Versicherungsunternehmen – Grundlagen, Methoden, Checklisten und Implementierung, 2. Auflage, Weinheim 2008.
  • Romeike, F. (2013): Narren des Zufalls, in: Frankfurter Institut für Risikomanagement und Regulierung (Hrsg.): FIRM Jahrbuch 2013, Frankfurt/Main 2013.
  • Romeike, F. (2013): Fooled by Randomness, in: FIRM Yearbook 2013, Frankfurt/Main 2012, S. 25-29.
  • Romeike, F./Stallinger, M. (2014): Schwarze Schwäne im Risikomanagement – Zum Umgang mit seltenen Ereignissen, in: RISIKO MANAGER, 06/2014, S. 1, 7-13.
  • Rottenstreich, Y./Hsee, C. K. (2001): Money, kisses, and electric shocks: on the affective psychology of risk, in: Psychological Science, Vol. 12, No. 3, Mai 2001, S. 185-190.
  • Taleb, N. N. (2008): Der Schwarze Schwan – Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, München 2008.
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