System Dynamics

Die heute verwendeten Werkzeuge beispielsweise im Risikomanagement treffen immer häufiger auf Grenzen, da sie mit der Komplexität der Strukturen und Prozesse der realen Welt nicht adäquat umgehen können. Bereits Anfang der 1950er Jahre hatte Jay Wright Forrester an der Sloan School of Management des Massachusetts Institute of Technology "System Dynamics" (SD) als Methodik zur ganzheitlichen Analyse und (Modell-)Simulation komplexer und dynamischer Systeme entwickelt.

Ausschlaggebend für Forresters Analysen am Massachusetts Institute of Technology war eine Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Konzern General Electric. Es fiel Forrester auf, dass ihm bei der Suche nach Gründen für die nicht optimale Auslastung eines Werkes sein Wissen als Ingenieur half. Die Situation von General Electric wurde in einem formalen Modell abgebildet und ihre zeitliche Entwicklung mit Hilfe eines Computers simuliert. Dabei kristallisierte sich neben den bekannten Geschäftszyklen die Struktur eines schwingenden, instabilen Systems heraus, bei dem trotz konstanter Auftragseingänge instabile Beschäftigungsverhältnisse als Konsequenz vorliegender "policies" auftraten. Forrester veröffentlichte basierend auf diesen Erkenntnissen sein Werk "Industrial Dynamics" [Forrester 1961], in dem er formulierte: "Industrial Dynamics is the investigation of the information-feedback character of industrial systems and the use of models for the design of improved organizational form and guiding policy." [Forrester 1961, S. 13].

Methodik zur Simulation des Weltmodells World3

Ausgehend von der Erkenntnis, dass mit Hilfe dieser Methode sämtliche soziale Systeme modelliert und diese Modelle anschließend simuliert werden können, lag es nahe, den speziellen Begriff "Industrial Dynamics" in den allgemeineren Ausdruck "System Dynamics" umzubenennen. System Dynamics war auch die grundlegende Methodik zur Simulation des Weltmodells World3, einer Studie zur Zukunft der Weltwirtschaft, die der Club of Rome in Auftrag gegeben hatte [Meadows/Meadows/Randers/Behrens III 1972].

Ausgangspunkt für die Entwicklung von System Dynamics bildete die wissenschaftliche Diskrepanz zwischen Ansätzen der klassischen Ökonometrie sowie einer ganzheitlichen Analyse und (Modell-) Simulation komplexer und dynamischer Systeme [vgl. Forrester 1961 sowie Forrester 1971]. System Dynamics ist daher als eine Methodik zur Modellierung, Simulation, Analyse und Gestaltung von dynamisch-komplexen Sachverhalten in sozioökonomischen Systemen zu verstehen. Dynamische und komplexe Systeme – wie eben auch Unternehmen – zeichnen sich unter anderem sowohl durch verzögerte Ursache-Wirkungs-Effekte als auch durch Rückkopplungsbeziehungen zwischen einzelnen Variablen aus. Klassische ökonometrische Modelle sind grundsätzlich stochastischer Art, da zur Schätzung die Verfahren der schließenden (induktiven) Statistik angewandt werden. Nicht alle Variablen eines ökonometrischen Modells sind direkt beobachtbar (latente Variablen). Beobachtbar sind die exogenen (Input) und die endogenen (Output) Variablen.

System Dynamics beschäftigt sich mit dem Verhalten von gelenkten Systemen im Zeitablauf. Es verfolgt das Ziel, Systeme mit Hilfe qualitativer und quantitativer Modelle nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu verstehen, wie Rückkopplungsstrukturen das Systemverhalten determinieren. Der Begriff System – aus dem Griechischen für "das Gebilde" und "das Verbundene" – bezeichnet hierbei eine Gesamtheit von Elementen, die so aufeinander bezogen beziehungsweise miteinander verbunden sind und in einer Weise wechselwirken, dass sie als eine aufgaben-, sinn- oder zweckgebundene Einheit angesehen werden können. Coyle definiert daher System Dynamics wie folgt: "System Dynamics deals with the time-dependent behavior of managed systems with the aim of describing the system and understanding, through qualitative and quantitative models, how information feedback structures and control policies through simulations and optimization." [Coyle 1996, S. 10].

System Dynamics bildet komplexe Strukturen modellseitig ab und ermöglicht Entscheidern, die Beziehungen zwischen einzelnen Systemkomponenten besser zu identifizieren. Von Komplexität wird immer dann gesprochen, wenn ein System in seiner Zusammensetzung kompliziert ist und dazu noch seinen Zustand im Zeitablauf ändert. Komplexität bezeichnet die aus den Beziehungen hervorgehende Vielfältigkeit von Zuständen und Zustandskonfigurationen in Systemen während einer Zeitspanne [Ulrich/Probst 1991, S. 58]. Dabei ist die Komplexität umso größer, je mehr Elemente vorhanden und je mehr diese voneinander abhängig sind.

System Dynamics unterstützt die Entwicklung formaler, mathematischer Modelle, um das Systemverhalten zu simulieren. Aufgrund der geschlossenen Struktur von System Dynamics sind in derartigen Modellen keine exogenen Variablen enthalten. Lediglich die Anfangswerte der Zustandsvariablen (Level) und die Parameter (constants), als konstante Hilfsgrößen, werden exogen in das isolierte System vorgegeben. Dabei sind die Zustandsvariablen aufgrund der interdependenten Struktur tatsächlich endogen.

Forrester lehnt eine Steuerung eines Modellsystems durch exogene Variablen ab, da sich alle ökologischen, sozialen und politischen Vorgänge in einem geschlossenen (Sub-)System abspielen [vgl. Forrester 1972, S. 137 ff.]. Der Reproduktion der entsprechenden Variablen innerhalb der Rückkopplungsstruktur des geschlossenen Systems misst Forrester eine sehr große Bedeutung bei [vgl. Forrester 1961, S. 348].

Ein wichtiges Kriterium von System Dynamics ist, dass auch nicht-lineare Beziehungen zwischen den Variablen simuliert werden können. In der klassischen Ökonometrie werden dagegen primär lineare Modelle betrachtet beziehungsweise nicht-lineare Funktionstypen in lineare transformiert. Lehmann merkt hierzu kritisch an, dass die Ökonometrie "ihre Modellstruktur der mathematischen Lösungstechniken" [Lehmann 1975, S. 40] anpasse.

Illustration der Methode

System Dynamics verfolgt das Ziel, das Verhalten eines komplexen Systems zu erklären. Um dieses Ziel zu erreichen, werden relevante Systemstrukturen modelliert. In einem System-Dynamics-Modell werden hierzu vier konstituierende Elemente dynamischer sozio-ökonomischer Systeme erfasst: 

  • Bestandsgrößen (level, stock): Bestandsgrößen sind Systemvariablen, die den aktuellen Zustand eines dynamischen Systems beschreiben, beispielsweise die aktuelle Risikosituation oder den aktuellen Lagerbestand.
  • Kausale Feedbackbeziehungen (feedback loops): Hierbei wird zwischen positiven (reinforcing loops) und negativen (balancing loops) Polaritäten unterschieden. Feedback ist die Rückführung von Informationen über den aktuellen Zustand eines Systems auf dessen Eingang. Die Interaktion von Feedbackbeziehungen regelt das Verhalten eines Systems.
  • Wirkungsverzögerungen (delay): Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass Ursache und Wirkung zeitlich voneinander getrennt sind.
  • Nichtlinearitäten (nonlinearities): Die Besonderheit von System Dynamics liegt darin, dass auch Nichtlinearitäten berücksichtigt werden können. Ein System ist immer dann nichtlinear, wenn Anpassungen in der Ausbringungsmenge nicht proportional zu Änderungen in der Eingabemenge sind.

Um ein System Dynamics Modell zu definieren, wird nach einer grundsätzlichen Beschreibung des Modells in einem zweiten Schritt ein kausales Rückkopplungsdiagramm (Causal Loop Diagram, CLD) erstellt. In weiteren Schritten folgen die Konvertierung der Beschreibung in Bestandsgrößen- und Flussdiagramme (Stock and Flow Diagram, SFD). Die anschließende Simulation des Modells unterstützt das Entwerfen von alternativen "policies" und Strukturen sowie die Diskussion dazu. So können geeignete "policy"- und Strukturveränderungen identifiziert werden. Ein typisches Ursache-Wirkungsgeflecht eines System-Dynamics-Modells zeigt die nachfolgende Abbildung.

Typische Anwendungsfälle

System Dynamics wird vor allem zur Modellierung komplexer und dynamischer Systeme eingesetzt. Die Methodik bietet die Möglichkeit, komplexe Ursache-Wirkungsgeflechte granular abzubilden und anschließend zu analysieren. Die Auswirkungen singulärer Entscheidungen werden so häufig erst in ihrer umfänglichen Tragweite transparent und auch unter langfristigen Gesichtspunkten begründbar. So können System-Dynamics-Analysen dazu führen, dass ursprünglich für richtig befundene Entscheidungen und Entscheidungsregeln revidiert werden müssen, da aus einer ganzheitlichen Systemanalyse zuvor unbedachte Effekte ersichtlich werden.

System Dynamics ist ein methodischer Ansatz, mit dessen Hilfe ein System ganzheitlich betrachtet wird. Daher liegt der Schwerpunkt von System Dynamics auf Analysen in einer nicht-atomistischen Sichtweise. (Diese Metasicht wird häufig auch als Kritik gegenüber System Dynamics vorgebracht.) Mit dieser Makroperspektive wird der Fokus der Analyse auf die ein System determinierenden Elemente und deren Interaktion gelenkt. Dahinter steckt die Logik, dass ein komplexes und dynamisches System nur dann verstanden werden kann, wenn die Komplexität möglichst adäquat abgebildet wird. Um die reale Komplexität erfassen zu können, bedarf es darüber hinaus einer nicht-linearen Art des Denkens. Dieser Theorieansatz des nicht-linearen Denkens kann unter dem Begriff "systems thinking" subsumiert werden [vgl. Sterman 1994, 2-3, S. 291 und Ossimitz 1995, S. 6].

Vor diesem Hintergrund sind typische Anwendungen im betriebswirtschaftlichen Kontext:

  • Bevorstehende Entscheidungssituationen sind durch Rückkopplungen und zeitliche Verzögerungen gekennzeichnet. Deren Auswirkungen können mit Hilfe eines System-Dynamics-Ansatzes sichtbar gemacht werden. Mögliche Entscheidungsalternativen können daher analysiert und darauf aufbauend eine optimale Auswahl getroffen werden.
  • Erklärungsmodelle von Systemverhalten. Um scheinbar überraschende Effekte zu erklären, wird System Dynamics in der Aus- und Weiterbildung eingesetzt. Hierzu werden Modelle eines Systems nachgebaut und mit einer Art spielerischen Erlebens werden die Konsequenzen von Entscheidungen transparent gemacht. Die Analyse der relevanten Systemkomponenten im Nachgang von simulierten Entscheidungssituationen zeigt die systemischen Wirkzusammenhänge auf. Beispiele derartiger Erklärungsmodelle sind Fish Banks [vgl. Whelan 1994 sowie Ford 1999] oder das Beer Game [vgl. Sterman 1989 sowie Sterman 1984].

Weitere betriebswirtschaftliche Anwendungsgebiete sind Unternehmensentwicklung [vgl. Mass/Berkson 1995,  Glucksman/Morecroft 1998 sowie Lyneis 1980], Energieversorgung und –preisgestaltung [vgl. Naill 1992] und das Managementtraining [Rosenørn/Kofoed 1998 sowie Warren/Langley 1999]. Darüber hinaus wird die Methodik auch erfolgreich zur Untersuchung auf Gebieten wie Medizin [vgl. Dangerfield 1999], Fischerei [Hannon/Ruth 1994], Psychiatrie, Volkswirtschaften [vgl. Heij/Schumacher/Hanzon/Praagman 1997], städtischem Wachstum [vgl. Forrester 1969], Umweltverschmutzung, Bevölkerungswachstum [Dörner 1989] sowie Pädagogik [vgl. Coyle 1999 sowie Milling 1999] herangezogen.

Weiterführende Literaturhinweise:

  • Coyle, R. G. (1996): System Dynamics modelling – A practical approach, London 1996.
  • Coyle, R. G. (1999): System dynamics at Bradford University: a silver jubilee review, in: Journal of the Operational Research Society, 50, 1999, 4, S. 296-301
  • Dangerfield, B. C. (1999): System dynamics applications to European health care issues, in: Journal of the Operational Research Society, 50, 1999, 4, S. 345-353.
  • Dörner, D. (1989): Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen, Reinbek 1989.
  • Forrester, J. W. (1961): Industrial Dynamics, Waltham/MA 1961.
  • Ford, F. A. (1999): Modeling the Environment: An Introduction to System Dynamics Models of Environmental Systems, Island Press, Washington DC 1999.
  • Forrester, J. W. (1969): Urban dynamics, Portland 1969.
  • Forrester, J. W. (1971): Counterintuitive behavior of social systems, in: Technology Review. 73(3) 1971, S. 52-68.
  • Forrester, J. W. (1972): Grundzüge einer Systemtheorie, Wiesbaden 1972.
  • Glucksman, M./Morecroft, J. (1998): Managing metamorphosis, in: The McKinsey Quarterly, 34, 1998, 2, S. 118-129.
  • Hannon, B. M./Ruth, M. (1994): Dynamic modeling, Springer, New York/Berlin 1994.
  • Heij, C./Schumacher, H./Hanzon, B./Praagman, K. (1997) [Hrsg.]: System dynamics in economic and financial models, John Wiley and Sons, Chichester/New York 1997.
  • Lehmann, G. (1975): Wirtschaftswachstum im Gleichgewicht, Stuttgart 1975.
  • Lyneis, J. M. (1980): Corporate planning and policy design: a system dynamics approach, MIT Press, Cambridge/London 1980.
  • Mass, N. J./Berkson, B. (1995): Going slow to go fast, in: The McKinsey Quarterly, 31, 1995, 4, S. 19-29.
  • Meadows, D. H./Meadows, D. L./Randers, J./Behrens III, W. W. (1972): The Limits to Growth, New York 1972.
  • Milling, P. M. (1999): System dynamics at Mannheim University, in: Journal of the Operational Research Society, 50, 1999.
  • Naill, R. F. (1992): A system dynamics model for national energy policy planning, in: System Dynamics Review, 8, 1992, 1, S. 1-19.
  • Ossimitz, G. (1995): Systemisches Denken und Modellbilden, Arbeitspapier des Instituts für Mathematik, Statistik und Didaktik der Mathematik der Universität Klagenfurt, Klagenfurt 1995.
  • Romeike, F./Spitzner, J. (2013): Von Szenarioanalyse bis Wargaming, Betriebswirtschaftliche Simulationen im Praxiseinsatz, Weinheim 2013.
  • Rosenørn, T./Kofoed, L. B. (1998): Reflection in learning processes through simulating/gaming, in: Simulation & Gaming, 29, 1998, 4, S. 432-440.
  • Sterman, J. D. (1984): Instructions for Running the Beer Distribution Game. D-3679, System Dynamics Group, MIT, E60-388, Cambridge, MA 02139.
  • Sterman, J. D. (1989): Modeling Managerial Behavior: Misperceptions of Feedback in a Dynamic Decision Making Experiment, in: Management Science, 35(3), 321-339.
  • Sterman, J. D. (1994): Learning in and about complex systems; in: System Dynamics Review, 10, 1994.
  • Ulrich, H./Probst, G. J. B. (1991): Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln: Ein Brevier für Führungskräfte, 3. Auflage, Bern/Stuttgart 1991.
  • Warren, K. D./Langley, P. A. (1999): The effective communication of system dynamics to improve insight and learning in management education, in: Journal of the Operational Research Society, 50, 1999, 4, S. 396-404.
  • Whelan, J. G. (1994): Building the Fish Banks Model and Renewable Resource Depletion, Prepared for System Dynamics Education Project, Sloan School of Management, Massachusetts Institute of Technology, July 1994.
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