Paul Pierre Lévy, Wegbereiter von "stabilen Verteilungen"

Paul Pierre Lévy (* 15. September 1886 in Paris, † 15. Dezember 1971 in Paris) war ein französischer Mathematiker und hat ganz wesentlich die Wahrscheinlichkeitstheorie mitentwickelt und gilt als Wegbereiter von "stabilen Verteilungen".

Paul Pierre Lévy stammte aus einer Familie jüdischer Händler und Akademiker. Sein Vater Lucien lehrte an der École Polytechnique, sein Großvater war Professor. Lévy schloss sein Studium an der École Polytechnique und der École des Mines ab. Im Jahr 1912 promovierte er mit einer Arbeit über Funktionalanalysis. Seine Lehrer waren bekannte Wissenschaftler wie u. a. Émile Picard, Henri Poincaré und Jacques Hadamard. Im Jahr 1913 wurde er Professor an der École des Mines und wechselte im Jahr 1920 an die École Polytechnique, an der er bis zum Jahr 1959 lehrte.

Paul Pierre Lévy war unter anderem Lehrer des Mathematikers Benoît B. Mandelbrot. "Für Studenten in den hinteren Reihen des Hörsaals – zu denen ich gehörte – war er fast nicht zu hören, und seine lange, graue und gepflegte Erscheinung ähnelte auf merkwürdige Art der etwas eigenwilligen Form, in der er das Symbol für ein Integral ∫ an die Tafel zeichnete", so Mandelbrot in seinem Buch "The (mis)behavior of Markets – A Fractal View of Risk, Ruin and Reward".

Erst mit seiner Anstellung an der École Polytechnique befasste sich Lévy intensiver mit Wahrscheinlichkeitstheorie und Stochastik und gehörte bereits nach kurzer Zeit zu den größten Wahrscheinlichkeitstheoretikern. Gleichzeitig wurde er von seinen Mathematikerkollegen weitgehend ignoriert. Mandelbrot weist als Begründung darauf hin, dass Lévy bei schriftlichen Beweisen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen eher nachlässig war, so dass sich in der Eile nicht selten Fehler einschlichen. Einige seiner ausgefallensten Ideen hat er hingegen nie veröffentlicht. Später wies er darauf hin, dass diese Erkenntnisse und Ideen zu offensichtlich waren, als das es sinnvoll gewesen wäre, diese zu publizieren.

Ein Besucher von einem anderen Planeten

Man gestattete Lévy eher widerwillig, dass er Vorlesungsreihen an der Universität von Paris halten durfte. Mandelbrot erinnert sich, dass er am Ende einer solchen Vorlesungsreihe sein einziger Hörer war. Erst im Alter von 87 Jahren wurde Lévy in die Akademie der Wissenschaften Frankreichs gewählt – eine späte Ehre für einen genialen Wissenschaftler. Der Mathematiker John von Neumann (auch János von Neumann zu Margitta, * 1903 in Budapest, † 8. Februar 1957 in Washington, DC) wird mit dem Satz zitiert, dass er Lévy als einen Besucher von einem anderen Planeten wahrgenommen hat. "Um zur Wahrheit zu gelangen, scheint er seine eigenen privaten Verfahren zu haben, die mir Unbehagen bereiten."

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Lévy gebeten, Vorlesungen über Zielfehler bei Schusswaffen zu halten. Wenig später veröffentlichte er – basierend auf seinen Analysen – erste Arbeiten zu "stabilen" Verteilungen. In diesem Zusammenhang bedeutet stabil, dass man ein solches Objekt (Wahrscheinlichkeitsverteilung) beispielsweise drehen, verkleinern oder etwas hinzufügen kann, wobei die Grundeigenschaften unverändert bleiben. Auch die Gaußsche Glockenkurve ist in diesem Sinne stabil. "Addiert man die Treffer des blinden Bogenschützens zu denen eines, sagen wir, blinden Gewehrschützens, genügen die beiden Datensätze gemeinsam nach wie vor Cauchys Formel (Anmerkung: Die Cauchy-Verteilung ist ein Spezialfall der Levy Verteilungen, μ=1). Auch sie ist stabil", so Mandelbrot.

Die Standard-Lévy-Verteilung gehört (wie die Normalverteilung und die Cauchy-Verteilung) zur übergeordneten Familie der alpha-stabilen Verteilungen, das heißt sie erfüllt die Bedingung X1+X2 ... +Xn ≈ n1/α X wobei X1+X2 ... + Xn, X unabhängige Standard-Lévy-Variablen sind (hier ist α = 1/2). 

Die Lévy-Verteilung besitzt weder einen endlichen Erwartungswert noch eine endliche Varianz, denn E(|X|)=∞. Die Lévy-Verteilung gehört daher zu den so genannten heavy-tailed distributions (auch fat oder long tail genannt), die vor allem dazu verwendet werden, extreme Ereignisse (etwa einen Börsencrash) zu modellieren.

Brownsche Bewegung als Grenzfall von Irrfahrten

Nehmen wir an, wir würden auf der Straße einen betrunkenen Mann beobachten: Er geht vielleicht drei Schritt nach links, drei Schritte nach rechts, vier Schritt rückwärts und zwei vorwärts. Einige Sekunden später geht er fünf Schritte nach rechts, drei vorwärts und einen rückwärts. Er bewegt sich sozusagen auf einem ziellosen, gezackten Pfad vor-, seit- und rückwärts. Ergebnis: Im Durchschnitt gelangt er nirgendwohin. Sein Spaziergang bleibt auf den Ausgangspunkt beschränkt. Eine ähnliche Beobachtung machte der schottische Botaniker Robert Brown im Jahr 1827 als er Pollen in einem Wassertropfen untersuchte. Unter dem Mikroskop erkannte er zuckende Bewegungen, die durch die Moleküle des Wassertropfens verursacht wurden. Diese stießen permanent und von allen Seiten gegen die größeren, sichtbaren Pollenteilchen. Dieser als Brownsche Bewegung (bzw. Brownsche Molekularbewegung) bekannte Prozess ist in der Stochastik auch als Wiener Prozess bekannt. Dieser zeitstetige stochastische Prozess, der normalverteilte, unabhängige Zuwächse hat, wurde nach dem US-amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener (* 1894 in Columbia, Missouri; † 1964 in Stockholm) benannt.

In der Praxis ist die Brownsche Bewegung für Mathematiker ein nützliches Instrument: Als "Grenzprozess" von Irrfahrten, überbrückt er die Kluft zwischen schrittweise und  kontinuierlich. Angeregt durch die Untersuchung von Finanzspekulationen arbeitete der Franzose Bachelier eine erste Theorie der Brownschen Bewegung aus. In seiner Arbeit operierte er schon mit dem Wiener Prozess, fünf Jahre bevor Albert Einstein diesen – zum zweiten Mal – entdeckte. Auch gab Bachelier explizite Preisformeln für Standard- (Put- und Call-) Optionen und Barrier-Optionen an, 73 Jahre bevor dies Black und Scholes gelang. Basierend auf seinen Arbeiten errichteten Wirtschaftswissenschaftler eine ausgefeilte und umfassende Theorie der Finanzmärkte und des Risikomanagements, das heißt wie Kurse sich ändern, wie Investoren denken und wie man Risiko als die ruhelose Seele des Marktes versteht. Bacheliers Lehren fanden an der Wall Street bereitwillig Schüler und wurden "zum Katechismus für das, was man heute als 'moderne' Finanztheorie bezeichnet", so Benoît B. Mandelbrot.

Bedeutende Fortschritte macht in der Folge aber vor allem Paul Lévy. Denn die Brownsche Bewegung ist ein spezieller Lévy-Prozess. Jeder Lévy-Prozess mit stetigen Pfaden ist eine Brownsche Bewegung mit geeigneter Driftrate μ und Volatilität σ. Der begnadete Wissenschaftler untersuchte erstmals Martingale und Lévy-Flüge. Nach ihm benannt sind des weiteren Lévy-Prozesse, das Lévy-Maß und die Lévy-Fläche. "He was a very modest man while believing fully in the power of rational thought. [...] whenever I pass by the Luxembourg gardens, I still see us there strolling, sitting in the sun on a bench. I still hear him speaking carefully his thoughts. I have known a great man", erinnert sich der Mathematiker Michel Loève.

"[...] Paul Lévy was a painter in the probabilistic world. Like the very great painting geniuses, his palette was his own and his paintings transmuted forever our vision of reality... His three main, somewhat overlapping, periods were: the limit laws period, the great period of additive processes and of martingales painted in pathtime colours, and the Brownian pathfinder period. [...]" Michel Loève, Mathematiker (* 1907 in Jaffa, Israel, † 1979 in Berkeley, USA).

Download:

Romeike, Frank (2008): Paul Pierre Lévy (Köpfe der Risk-Community), in: RISIKO MANAGER, Ausgabe 3/2008, Seite 18.

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Weiterführende Literaturhinweise:

  • Cont, Rama/Tankov, Peter (2003): Financial Modelling with Jump Processes, London 2003.
  • Mandelbrot, Benoît (2004): The (Mis)behavior of Markets: A Fractal View of Risk, Ruin, and Reward, New York 2004.
  • Romeike, Frank (2007): Augustin Louis Cauchy, in: RISIKO MANAGER, Ausgabe 24/2007, Seite 16-17.
  • Romeike, Frank (2007): Louis Bachelier, in: RISIKO MANAGER, Ausgabe 21/2007, Seite 24-26.
  • Romeike, Frank (2008): Paul Pierre Lévy (Köpfe der Risk-Community), in: RISIKO MANAGER, Ausgabe 3/2008, Seite 18.

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